Klammroth: Roman (German Edition)
und verändert einen Menschen. Theodora hat das verstanden. Sie hat mich verstanden. Und sie hat gesehen, was mit Ihnen geschah, und ahnte, was aus Ihnen werden würde.«
»Wo ist Lily?«
»Nicht hier. Nicht in Klammroth.«
»Sie lügen!«
Er schüttelte mit sanftem Bedauern den Kopf, dann machte er einen Schritt auf sie zu. »Ich werde es Ihnen zeigen. Dann werden Sie mir glauben müssen.«
Sie wich in eine offene Zimmertür zurück, doch von Stille trat an ihr vorbei zur Treppe.
»Was tun Sie?«
Wortlos stieg er die Stufen zum ersten Stock hinauf.
Nach kurzem Zögern ging sie neben Sebastian in die Hocke. Die beiden Wunden an den Beinen bluteten noch immer, aber nicht allzu stark. Von Stille hatte gezielt nur die Sehnen zerschnitten. Weit mehr Blut bedeckte Sebastians Hals, sodass sie auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, wo sich die Wunde befand, die der Alte ihm zugefügt hatte.
Sein Schmerz stieg wie ein lockender Duft zu ihr auf. Sie wollte sich das nicht eingestehen, weil es nicht wahr sein durfte, aber sie spürte wieder dieses Verlangen. Die Gier, an seinem Leiden teilzuhaben und ihm noch größere Schmerzen zuzufügen.
Nein! Das bin nicht ich!
Seine Augen suchten ihre. Sein Mund zuckte. Wieder drang nur ein Stöhnen aus seiner Kehle, aber sie konnte das Wort von seinen Lippen ablesen.
Nele.
Im selben Moment rief der alte Mann von oben: »Anais? Würden Sie wohl einen Moment heraufkommen?«
Sebastians Augen waren weit aufgerissen. Er konnte nicht sprechen, nicht einmal nicken, doch sie wusste auch so, dass er sie aufforderte, sich um seine Schwester zu kümmern.
Der Weg nach draußen war frei. Sie hätte das Haus verlassen und fliehen können.
»Kommen Sie her, Anais«, rief von Stille ungeduldig, »sonst töte ich Nele!«
Sebastians Hand bewegte sich auf ihren Knöchel zu und berührte ihn mit letzter Kraft. Noch eine Aufforderung: Hilf ihr!
Anais strich ihm übers Haar, dann richtete sie sich auf und stieg die Treppe hoch. Am Geländer klebte noch ihr Blut. Jetzt spürte sie wieder das Pochen der Wunde in ihrer Hand, aber nur ganz schwach. So viel starker, fremder Schmerz erfüllte dieses Haus.
Entschlossen nahm sie Stufe um Stufe. Sie tat das nicht für Sebastian. Vielleicht nicht einmal für Nele. Sie tat es für Lily und weil ein Flackern um das Gesicht ihrer Tochter spielte, wenn sie an sie dachte. So, als fiele es ihr mit jedem Schritt schwerer, sich an sie zu erinnern.
Sie kam an der offenen Tür der Abstellkammer vorbei. Die Pflegerin hatte nicht auf sie gehört. Jetzt lag sie vor Neles Zimmer. Auch sie lebte noch, während sie ihre Hände auf eine blutende Bauchwunde presste. Ein flehendes Flüstern drang an Anais’ Ohr, als sie über die Frau hinwegstieg.
Von Stille stand hinter dem Kopfende von Neles Bett. Er hatte sich über das Gitter gebeugt, die linke Hand um Neles Hals gelegt, und presste ihren Kopf aufs Kissen. Mit der rechten ließ er das Bajonett über dem verwüsteten Gesicht schweben, die Spitze senkrecht nach unten. Eine Inszenierung allein für Anais.
Nele hatte aufgehört zu schreien. Es war, als beruhigte von Stilles Anwesenheit sie. Fast schien da ein Gefühl von Vertrautheit zwischen ihnen zu sein, die intime Nähe zwischen Folterknecht und Opfer.
»Sehen Sie auf den Boden«, sagte von Stille zu Anais.
Mitten im Raum lag eine Spritze, bis zum Anschlag gefüllt mit einer gelblichen Substanz.
»Heben Sie die auf.«
»Tun Sie Nele nichts!«
»Nicht, wenn Sie gehorchen.«
Sie bückte sich und nahm die Spritze in die Hand.
»Injizieren«, sagte von Stille.
»Auf keinen Fall.«
Die Bajonettspitze senkte sich und verharrte knapp über Neles Gesichtshaut.
»Ich gebe Ihnen ein Versprechen«, sagte er. »Ich werde Ihnen nichts tun. Dasselbe gilt für Ihre Freundin. Sie können das nicht wissen, aber Nele und ich kennen einander schon seit vielen Jahren.«
»Sind Sie der Peiniger, von dem sie gesprochen hat?«
»Das ist nur ein Wort. Ein Aberglaube.«
Ohne die Spritze anzusehen fragte sie: »Was ist da drin?«
»Etwas, das Sie beruhigt.«
»Werden Sie mir Lily zurückgeben?«
»Ich gebe Ihnen etwas Besseres – die Wahrheit über Ihre Tochter.«
Wieder wollte sie auffahren, aber da berührte das Bajonett Neles Haut.
»Zwingen Sie mich nicht, das zu tun«, sagte er.
Mit der linken Hand schob Anais ihren Pullover nach oben und entblößte das Netzwerk von Narben auf ihrem Bauch. Haarfeine weiße Linien, jede einzelne ein Schnitt mit der
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