Klammroth: Roman (German Edition)
Anais ihn an.
»Du solltest dich besser daran gewöhnen.«
Die Frau stöhnte leise, war aber viel zu schwach, um sich gegen ihn aufzulehnen. Auch Sebastian regte sich wieder, kämpfte gegen die Fesseln an und brachte beinahe den Stuhl zum Kippen. Von Stille musste von seinem Opfer ablassen und ihn festhalten, damit er nicht hinterrücks umfiel.
Anais’ Ellbogen hatten jetzt immer mehr Bewegungsfreiheit, und dadurch rutschten auch die Fesseln höher. Ihre Handgelenke waren einzeln an den hinteren Stuhlbeinen festgebunden. Sie schwitzte vor Anstrengung, und die Feuchtigkeit machte ihre Haut unter dem Kunststoffseil noch beweglicher.
»Zuletzt war es gar nicht schwer, Theodora zu überzeugen«, sagte er, während er Anais den Rücken zuwandte und Sebastian musterte. Dessen hasserfüllter Blick war verwässert von Tränen und Schweiß, aber er wich dem Alten nicht aus. »Sie und ich schlossen einen Pakt. Sie führte mir imKeller der Klinik die Patienten mit den ergiebigsten Leiden zu, und ich sorgte weiterhin dafür, dass ihr Institut bemerkenswerte Erfolge verzeichnen konnte.«
»Sie war so ein Miststück!«
»Sie war besessen von ihrer Arbeit. Sie hat deinen Vater geheiratet, weil es ihren Zwecken dienlich war, und dann hat sie weggesehen, als ich … nun, an meine Arbeit ging.« Von Stille hob die Klinge und zerschnitt Sebastians zweiten Nasenflügel. Sekundenlang geschah nichts, dann schoss Blut in den Samtknebel vor Sebastians Mund. Der nasse Stoff schluckte seinen Aufschrei.
Anais’ Oberkörper wurde immer beweglicher. Die Schnüre waren über ihre Brüste nach oben gewandert. Noch ein paar Zentimeter, dann konnte sie versuchen, mit einigen Verrenkungen darunter hinwegzutauchen. Allerdings würde von Stille das sofort bemerken.
Da kreuzte sie Sebastians Blick. Er brachte etwas zustande, das wie ein schwaches Nicken wirkte. Unvermittelt musste sie an die Nachmittage und Abende denken, die sie als Teenager miteinander verbracht hatten. Ihre Verliebtheit in ihn hatte an Besessenheit gegrenzt. Und dann war etwas geschehen, das alles verändert hatte. Nicht erst der Tunnel. Schon früher. Erneut regte sich der Nachhall unterdrückter Erinnerungen in ihr wie ein Tier, das aus dem Winterschlaf erwachte.
Sebastian hob und senkte leicht das Kinn. Er schien ihr etwas sagen zu wollen, und nun verstand sie: Er würde versuchen, von Stille von ihr abzulenken, sobald sie ihm das Signal dazu gab. Sie presste die Lippen aufeinander und erwiderte das Nicken. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Der alte Mann hob das Bajonett und führte es erneut in die Richtung der Frau. Anais war froh, dass er im Wegstand und ihr die Sicht versperrte. Wenig später beugte er sich vor und drückte wieder den Mund auf den seiner Gefangenen.
»Du bist wie ich«, sagte er zu Anais, als er schließlich von seinem Opfer abließ. »Theodora hat das begriffen, und nun kümmere ich mich um dich, weil sie es nicht mehr kann.«
Ihr Lachen sollte ihn verletzen, klang aber nur verrückt. »Ist es das, was Sie sich ausmalen? Dass wir zwei in Zukunft gemeinsam tun, was Sie getan haben?«
»Eine schöne Vorstellung.« Aufrichtiges Bedauern lag in seiner Stimme. »Aber ich sehe ein, dass du im Augenblick nicht gut auf mich zu sprechen bist. Es ist nicht leicht, alle Illusionen zu verlieren.«
Nele nahm summend die Melodie wieder auf.
Die Pflegerin hob den Kopf. Mit letzter Kraft stieß sie einen herzzerreißenden Schrei aus. Von Stille fuhr ungehalten herum und seufzte, weil er ihr den Knebel nicht zurück über den Mund gezogen hatte.
Anais nickte Sebastian zu. Augenblicklich begann er zu toben, brüllte in den blutigen Samt vor seinem Mund und lehnte sich ein letztes Mal gegen die Fesseln auf.
»Du meine Güte.« Ungehalten trat der alte Mann zu den beiden hinüber.
Anais’ Köper fühlte sich kochend heiß an. Noch eine solche Chance würde sie nicht bekommen.
Sebastian brachte den Stuhl zum Schaukeln. Die Frau hörte auf zu schreien und flehte um ihr Leben. Über ihre Lippen kam kaum mehr als ein unverständliches Röcheln. Rote Bläschen platzten auf ihren Lippen, während Sebastian neben ihr raste und heftige Blutschübe aus seinen Wunden strömten.
Anais glitt ein Stück nach unten. Die Leinen über ihrerBrust rutschten bis zum Hals herauf. Einen Moment lang fürchtete sie, sich selbst zu strangulieren. Dann aber gelang es ihr, die Beine auszustrecken und sich nach vorn zur Stuhlkante zu schieben, bis sie den Kopf aus der Schlinge
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