Klammroth: Roman (German Edition)
Zeit, mir Gedankenüber die exquisitesten Qualen zu machen, und ich wurde süchtig danach. Genau wie du es bald sein wirst.«
Sie blickte an ihm vorbei zu Sebastian und ahnte, was von Stille mit ihm vorhatte. Sebastian sollte ihr gehören. Er war das Werkzeug ihrer Initiation. Und in Sebastians Blick konnte sie lesen, dass er sie verantwortlich machte für das, was hier geschah, wenigstens für einen Teil davon.
»Peiniger«, wisperte Nele. »Peiniger. Peiniger.«
Von Stille ging langsam an Anais vorbei und auf das zuckende Bündel am Boden zu.
»Nicht sie!«, schrie Anais ihn an.
Hinter Nele blieb er stehen. Sie begann wieder, Bruchstücke des Kinderlieds zu summen, eine Melodie so unvollständig wie sie selbst.
»Tun Sie ihr nichts!«, flehte Anais ihn an.
»Niemand ist mir je auf die Spur gekommen«, sagte der Alte. »Und dann ist das hier passiert. Dann seid ihr passiert.« Er ging neben Nele in die Hocke und streichelte ihren verbrannten Schädel. Summend schmiegte sie ihren Kopf in seine Hand.
»Eine Flut der Schmerzen brach über Klammroth herein.« Wie alles an ihm fand Anais auch seinen Pathos kaum zu ertragen. »Es war so leicht, nachts durch die Straßen zu streifen und das Leid der anderen zu kosten. All die Kinder, die lebend aus den Flammen gekrochen waren … Sie waren so viel ergiebiger als die Menschen in meinem Keller. Die ganze Stadt war voll von ihnen und ihren verstörten Familien. Überall so viel Schmerz und Trauer.« Er beugte sich vor und gab Nele einen Kuss auf die nackte Kopfhaut.
Sebastian versuchte zu protestieren, aber er hatte kaum mehr die Kraft, sich gegen die Fesseln zu stemmen. Die Wunde an seinem Hals blutete noch immer, und auch umseine Füße war wieder eine dunkle Pfütze entstanden; sie zog dunkle Fäden unter seinen Sohlen.
»Nachts bin ich in die Häuser eingebrochen und habe den Menschen ihren Schmerz genommen.« Von Stille legte Neles Kopf sanft am Boden ab und erhob sich. »Fürs Erste war es nicht mehr nötig, jemandem Leid zuzufügen.« Er ging zurück zu Sebastian und der Polin. »Und dann kam Theodora nach Klammroth.«
43
Die Fessel, die von Stille durchtrennt hatte, um Anais’ Narben am Bauch zu entblößen, war nur eine von mehreren, die ihren Oberkörper festhielten. Auch ihre Arme waren noch immer eng an ihre Seiten gebunden. Allerdings war sie jetzt in der Lage, die Ellbogen leicht nach außen zu drehen und um einige Zentimeter anzuwinkeln. Vorsichtig begann sie, damit Druck auf die übrigen Seilschlaufen auszuüben, mit denen ihre Oberarme am Körper fixiert waren.
»Als deine Stiefmutter ihre Klinik eröffnete, waren noch keine zwei Jahre seit dem Unfall im Tunnel vergangen«, fuhr von Stille fort. »Ich habe noch nie so viel Schmerz an einem Ort erlebt. Mir war klar, dass es schwierig sein würde, regelmäßig dort einzudringen, also musste ich mich selbst behandeln lassen. Ich begab mich in Theodoras Obhut, mietete mich in einem der privaten Krankenzimmer ein und wurde zu ihrem Vorzeigepatienten. Es gibt kaum einen Fingerbreit an meinem Körper, der nicht verbrannt ist, und sie war davon über alle Maßen fasziniert. Sie verstand nicht, wie ich überlebt hatte und den Schmerz all die Jahrzehnte lang ertragen konnte. Tagsüber unterzog sie mich allen möglichen Therapien, und nachts wanderte ich durch die Zimmer der Klinik und trank den Schmerz der Menschen. Theodora führte die Besserung der meisten auf ihre Behandlung zurück, und es dauerte nicht lange, ehe sich ihr guter Ruf herumsprach. Es kamen immer mehr Patienten von überall her, und wenn es mir in den Nächten gelang, unbemerkt an diese Leute heranzukommen, dann ließ ihr Leiden bald nach. Wenigstens für eine Weile. Ein paar Jahrelang ging das gut, aber dann spürte ich, wie das Bedürfnis zurückkehrte, mit eigenen Händen Schmerzen zuzufügen. Ich hatte die Wahl, entweder in mein Haus zurückzukehren und von Neuem das Risiko einzugehen, überführt zu werden – oder aber Theodora zu beweisen, wer wirklich für ihre Erfolge verantwortlich war.«
Durch die Bewegung ihrer Ellbogen wanderten die Schnüre millimeterweise an Anais’ Armen herauf. Ob sie sich aber auf diese Weise befreien konnte, war ungewiss, zumal sie jedes Mal innehalten musste, wenn er zu ihr herübersah.
Von Stille trat wieder hinter die Pflegerin. Ganz langsam setzte er die Spitze in eine der Wunden und schnitt ein zweites Mal durch die blutige Furche, diesmal viel tiefer.
»Hören Sie auf damit!«, brüllte
Weitere Kostenlose Bücher