Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klammroth: Roman (German Edition)

Klammroth: Roman (German Edition)

Titel: Klammroth: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isa Grimm
Vom Netzwerk:
gesessen, und sie wurde auch nicht entführt. Sie war ein Symptom deines Schmerzes, und als ich dir den genommen habe, da ist auch sie verblasst.«
    »Das ist nicht wahr!«
    »Ich fürchte, schon.«
    »Das sind alles nur Lügen!«
    Neles Summen brach ab. Sekundenlang herrschte Schweigen. Dann flüsterte sie wieder dieses eine furchtbare Wort.
    »Peiniger.«
    Flüsterte es in Anais’ Richtung.
    »Peiniger. Peiniger. Peiniger. «
    Anais sah noch immer nicht zu ihr hinüber, kreuzte stattdessen wieder den Blick des Alten. Er trat zwischen Sebastian und die zuckende Frau und legte beiden eine Hand auf die Schulter. In der Faust auf Sebastians Seite hielt er das Bajonett, so, als wollte er sichergehen, dass der es betrachten konnte. Die Furcht davor vergrößerte das Leiden. Anais ertappte sich dabei, dass sie bereits dachte wie von Stille.
    »Warum?«, fragte sie leise. Sie versuchte, seine Lügen über Lily zu verdrängen, irgendwie. Lily war nicht hier, und sie war nicht am Tunnel, das war die Hauptsache. Vielleicht war sie wirklich abgehauen, wie Herzog vermutet hatte. Wer konnte ihr das verübeln?
    Der alte Mann musterte sie verwundert. »Warum? Sternberg hat dir doch erzählt, was im Tunnel geschehen ist. Damals, im Frühjahr ’45. Bei all seinen Nachforschungen hat der gute Professor nie beweisen können, dass ich die Schuld daran trug. Dabei hätte er mich nur fragen brauchen, ich hätte ihm die Antwort gegeben, auf die er so versessen war. Ja, es war meine Schuld. Ich habe diese Kinder auf dem Gewissen. Heute kann ich darüber sprechen, ohne dass es mich in den Wahnsinn treibt. Das verdanke ich auch deiner Stiefmutter.«
    Sie schnaubte verächtlich. »Sie und Theodora haben sich ja ganz wunderbar verstanden.«
    »Als sie begriff, was ich bin und was ich für sie tun konnte   …« Er nahm die Hand von Sebastians Schulter, trat an seine Seite und schlitzte ihm mit einer blitzschnellen Bewegung den rechten Nasenflügel auf. Sebastian riss den Kopf herum und schrie in den Knebel, aber von Stille griff ihm ins Haar und zwang ihn, zu Anais herüberzusehen.
    »Nimm das nicht persönlich«, sagte der alte Mann zu ihr. »Es war längst an der Zeit, mir die beiden vorzunehmen.«
    »Diese Frau hat Ihnen nichts getan!«
    »Die Frau?« Von Stille schüttelte den Kopf. »O nein, doch nicht sie. Ich meine ihn hier und den anderen Kerl, diesen Muskelprotz.«
    Anais schloss die Augen. Also auch Erik.
    »Ich habe maßlos gelitten.« Von Stille klang wie jemand, der einen edlen Wein preist. »Ich hätte diese Kinder niemals in den Tunnel führen dürfen. Ich wusste, was sich darin befand, aber ich dachte, wir wären dort immer noch sicherer als in meinem Haus. Doch es waren nun einmal Kinder, und ich hätte damit rechnen müssen, dass sie herumspielen würden mit allem, was sie in die Finger bekamen.« Für einen Augenblick verstummte er, und seine Miene erstarrte. »Nachdem es vorbei war, die Toten begraben, die Verwundeten abtransportiert und ich selbst verbrannt von Kopf bis Fuß, da verzweifelte ich. Ich wollte sterben und wollte es auch nicht. Ich begann, mir selbst Schmerzen zuzufügen. Schnitte und noch mehr Verbrennungen. Erinnert dich das an jemanden, Anais? Erkennst du das Muster?«
    »Ich habe mir nie die Schuld gegeben an dem, was im Tunnel geschehen ist.«
    Er ließ von Sebastian ab und kam auf sie zu. »Bist du dir sicher?«
    Es war ein Unfall gewesen. Sie hatte überlebt, genau wie einige der anderen. All die Verbrannten, die sie in Klammroth gesehen hatte. Erik. Sebastian. Sogar Nele. Sie alle waren Überlebende.
    »Es war nicht meine Schuld«, flüsterte sie.
    Die Klinge zuckte vor und zerschnitt eine der Fesseln über ihrem Bauch. Von Stille zerrte ihren Pullover ein Stück weit nach oben und entblößte das haarfeine Narbengitter auf ihrer Haut. »Davon gibt es noch mehr, nicht wahr? Überall auf deinem Körper. Ich habe dasselbe getan und Schlimmeres.« Er ließ den Stoff los und trat einen Schritt zurück. »Irgendwann, nach Jahren, ist mir bewusst geworden, dass nicht nur mein eigener Schmerz es erträglicher macht. Es hat gutgetan, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen. Das ist der nächste Schritt, Anais, dein nächster Schritt. Ob Quälgeist oder Peiniger   … Egal, wie sie uns nennen, wir alle sind durch Leid zu dem geworden, was wir sind. Ich habe über Jahrzehnte allein in meinem Haus gelebt, isoliert von der Welt   – bis ich begonnen habe, Fremde in meinen Keller zu bringen. Ich hatte viel

Weitere Kostenlose Bücher