Klar sehen und doch hoffen
sich, trotz aller Anfangsbegeisterung, schwieriger und schmerzhafter als gedacht. In den neuen Gruppierungen hatte sich ein Sammelsurium divergierender Auffassungen und politischer Biographien zusammengefunden. Die SPD gewann die Wahl vom 6. Mai. Wir konnten und mussten den Bürgermeister stellen.Der vorgesehene Kandidat, ein Lehrer, zog sich nach eigenen Angaben aus gesundheitlichen Gründen zurück. Noch im Juni 1989 war er Delegierter des Pädagogischen Kongresses gewesen. Ihm war selbst deutlich geworden, dass er uns eher geschadet hätte. Im Laufe eines einzigen Abends mussten wir uns auf einen neuen gemeinsamen Bürgermeisterkandidaten verständigen. Der Softwareingenieur Eckhard Naumann erklärte sich schließlich bereit. Er ist bis heute Oberbürgermeister und »meistert« seit 22 Jahren tatkräftig und in nüchterner Gelassenheit diese Lutherstadt.
Für die Mehrheit der Wittenberger war eine Zusammenarbeit mit der örtlichen SED/PDS undenkbar. Der 1. Sekretär der SED hatte im Herbst 1989 noch ziemlich scharf agiert. Das blieb im Gedächtnis, auch wenn er von November 1989 an sein Verhalten änderte, sich lernbereit zeigte und eine vermittelnde Rolle einnahm. Er entschuldigte sich sogar im Januar 1990 bei einer Großdemonstration auf dem Marktplatz ausdrücklich bei mir, nachdem man ihn dort wegen der Maßnahmen gegen mich angegriffen hatte. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet einer der aktivsten IMs ihn zu dieser Abbitte genötigt hatte. Ende 1990 suchte dieser IM mich auf. Er erweckte den Eindruck, als suche er meinen Rat. Er stehe im Verdacht, sagte er mir, Stasispitzel gewesen zu sein. Er erzählte, wie sehr er darunter leide. Er versuchte offenkundig, mich für sich einzunehmen. Einige Monate später kam er ein zweites Mal und bekannte, dass er tatsächlich ein Spitzel gewesen ist. Ich wollte davon nicht allzu viel wissen. Aber vergeben? Das große Wort wollte ich nicht strapazieren. Ich forderte ihn auf, zu allen zu gehen, über die er berichtet hatte, und sich ihnen zu offenbaren. Wenn er diesen Weg gehen würde, würde ich schweigen und seinen Namen nicht öffentlich preisgeben. Er ging zu den anderen; es fiel allen schwer, aber sie verhielten sich genauso wie ich.
»DIE DRECKSAU UND DIE TRUCKSAU«
Die zensierte Presse der kommunistischen Staatsmacht verschwand, mit ihr auch die SED-Bezirkszeitung »Freiheit«, die dieses Wort besudelt hatte. Auch in der Zeit der Pressefreiheit bin ich Gegenstand diverser Schmähung und übler Nachrede geworden.
Ich spürte kräftigen Gegenwind etwa wegen meiner Unterschrift unter die Resolution »Für unser Land« vom November 1989. Manche jetzt Schwarze schalten mich plötzlich einen Roten und einen angeblichen Gegner der deutschen Einheit. Ich hatte sie anders gewollt. Manche öffentliche oder persönliche Polemik schmerzte. Da bestärkte mich nachhaltig, dass so etwas nicht neu ist. Beim Aufräumen in den Kellern der Cranach-Höfe stieß ich auf einen kleinen Text: »Die Drecksau und die Trucksau«. Er lässt sich wohl der reformatorischen Umbruchzeit 1522 zuordnen. Ich habe nicht nach ihm gesucht. Er hat mich gefunden. In drastischen Bildern beschreibt der Autor, was eine Drucksau anzurichten vermag:
»Wenn du nun siehest das teutsche Landschweyn, das im Kote wühlet, so maggst tu wol sagen: Siehe da, eine Trecksau . Doch sie ist’s nicht. Es ist ihr natürlich Wesen. Gemeyn ist ess, sie altzo zu titullieren. Sie wühlet im Drecke und fühlet sich wol, item sie sich selber schmutzt. Stolz zeiget sich eyne solch redliche Trecksau. Sie grunzet und quieket, wird fett und zufrieden, bis sie geschlachtet wird. Da wird sie nun auch gekocht, geräuchert und gepöckelt und schmecket in Maßen sehr wohl.
Die Trucksau ist nur gemeyn. Sie wühlet im Drecke stetiglich, um zu beschmutzen ander Geschöpf. Sie fühlet sich gar sauwol, wenn sie wie eine Saubersau dastehe, die ander Geschöpf mit Schmutz beworfen, bespritzet, besudelt hat. Zu nichts ist ihrer nütze.
Will tu sie schlachten? Es würde dich reuen; ihres Fleisches Gestank käme über deiner Küchen. So siehe nun zu, daß du sie erkennest, bevor sie auch dich beschmutzet hat und hüte dich, sie zu füttern. Sie frissest alles, was sie bekommen kann und verdienet daran gross Geldes.
Wenn ich nun geben sollt ein ander Gleichnis, so müsst ich sagen, sie ist wie ein Bitterling und gleichet doch dem Steinpilze. Ein einziger Bitterling verdirbt das gantz Essen.« 46
ERINNERUNG AN
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