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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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VERGANGENES UM DER ZUKUNFT WILLEN
    Zwanzig Jahre nach unserer »Umschmiedeaktion« kam es erneut zu einem Konflikt darüber, was Identität stiften soll und welche Erinnerung zu pflegen ist. Auf dem Wittenberger Markt sollten 2003 Soldaten des Bundeswehrstandortes Holzdorf feierlich vereidigt werden.
    Was war der Hauptgrund für die Idee eines feierlichen Gelöbnisses an diesem Ort? Sollte die neue, vereinte Armee zum Symbol für das wiedervereinigte Deutschland werden? Oder wollte man ohne besonderes Nachdenken nur Wittenberg ins Gespräch bringen und die Geschäfte des Einzelhandels an diesem Tag fördern? Nach den Protesten wurde der Plan schließlich aufgegeben.
    Im Rahmen der Evangelischen Akademie lud ich 1992 zu einer Tagung über die Pädagogik in der DDR und im Umbruch ein. Mehrere damals Verantwortliche kamen. Aktive Lehrer waren allerdings kaum zu sehen. Sogar der Chefpädagoge der DDR Gerhard Neuner war gekommen. In der Begegnung mit ihm konnte ich mein Vorurteil begraben, ohne meine Kritik an der Ideologie der Einheitsschule zu relativieren. Es war eine offene, nachdenkliche Atmosphäre. Ein jungerMann bekannte, dass er an der Grenze geschossen hätte, wenn es gegolten hätte, einen »Grenzdurchbruch« zu verhindern. Wie konnte er so geprägt werden? Auch der frühere Direktor der Melanchthon-EOS war gekommen. Mit ihm hatte ich 1989 einige Konflikte. Er entzog sich nicht der kritischen Reflexion. Einige Lehrer, die positiv evaluiert worden waren, empörten sich. Sie machten mir zum Vorwurf, dass ich diesen »roten Herrschaften« eine Bühne gegeben hätte. Muss man nicht – fragte ich zurück – Aug in Aug mit den Verantwortlichen reden, sofern sie bereit sind, über ihr früheres Denken und Handeln im damaligen Kontext zu sprechen, vielleicht sogar zu benennen, was sie seitdem gelernt haben?
DUMMHEIT GEFÄHRDET DIE DEMOKRATIE
    In einem Rückblick auf 1933 schrieb Dietrich Bonhoeffer 1943 unter der Leitfrage »Sind wir noch brauchbar?«: »Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse lässt sich protestieren, es lässt sich bloßstellen, es lässt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurücklässt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt lässt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch ‒, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden.« 47
    Mir wurde medial vorgeworfen, ich hätte mich verächtlich über die Wittenberger Bürger und Repräsentanten der gewählten Mehrheit im Stadtparlament geäußert. Volkes Stimmewurde – nach einer allzu bekannten Manier – in Stellung gebracht. Was war geschehen? In einer SPD-Versammlung hatte ich einige Gedanken über »Populismus, Dummheit und die politische Kultur« vorgetragen und dabei als Beispiele die Diskussion über die Öko-Steuer und die Proteste der Brummifahrer genannt, die von BILD geschürt worden waren. Gewiss, der Hinweis, dass Probleme komplex sind, kann zur Ausrede werden. Die Vereinfachung von Problemlagen aber, das Bedienen von Vorurteilen und die Pflege von Klischees, das Spielen mit Stimmungen, um Mehrheiten hinter sich zu bringen, all das sind gefährliche Untugenden in unserer Demokratie. Keine Partei, die gewählt werden will, ist dagegen immun.
    Meine Kritik bezog sich ausdrücklich auch auf die Partei, der ich angehöre: »BILD, BAMS, Glotze«. Populismus zielt darauf, Menschen zu manipulieren. Er gaukelt ihnen vor, ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, verspricht, Lasten abzunehmen, Steuern und Abgaben zu senken und Wohlstand zu steigern. Wenn frühere Repräsentanten der »herrschenden Klasse« wieder laut-stark auftreten und populistischmachtvoll vorgeben, die Stimme des Volkes zu sein, kommt es mir vor wie eine neue Variante der alten Parole »Alles zum Wohle des Volkes«.
    Es ging mir um Grundfragen der politischen Kultur: Komplizierte Dinge müssen auch einfach dargestellt werden, aber sie dürfen nicht simplifiziert werden. Wo Zielkonflikte und Widersprüche vorliegen, ist das zu benennen. Wer sie wider besseres Wissen verschweigt, handelt verantwortungslos. Gewissenlos ist es, den Menschen nach dem Munde zu reden, gute Stimmung für

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