Klar sehen und doch hoffen
vorgelesen: Storm, Kleist, Thomas Mann. Wir diskutierten, sangen, saßen am Lagerfeuer. Wir waren in einem ummauerten Land freie Menschen.
Eines Abends, es war gegen 19 Uhr – mein Vater war aus dienstlichen Gründen bereits abgereist ‒, kamen drei Männer und forderten uns auf, dieses »illegale Lager« sofort abzubrechen. Sie inspizierten uns und fragten, wer hier noch alles gelagert und übernachtet habe. Auch der Sohn eines Lehrerehepaars, mein Freund Uwe Petschler, war bereits nach Hause gefahren. Ich verschwieg seinen Namen. Aber ein Beflissener findet sich immer, also erfuhren die Eindringlinge doch seinen Namen. Bei dem, der Uwe verriet, überlief mich ein Schauer – dessen Vater war bis 45 einer der eifrigsten PGs gewesen. Nur ein Vorurteil, das mich in jener Stunde überkam und auch in der Beurteilung des Sohnes leitete? Egal, Verrat bleibt Verrat. (Zu Uwe verlor ich den Kontakt. Er wurde Arzt und nahm sich in den 90er-Jahren das Leben. Er war mit »der Wende« nicht zurechtgekommen.)
Die drei Herren, das waren ein Offizier der Staatssicherheit, der Kreisschulrat und der erste Sekretär der SED-Kreisleitung. Immerhin erstaunlich, welch hohe regionale Prominenz unser kleines Zeltlager auf den Plan rief. Uns trieb geradezu höllische Angst vor Bestrafungen. Wir kamen, nachdem das kleine, private »Ferienlager« von der Staatsmacht aufgelöst worden war, für eine Nacht auf dem Dachboden einer Familie unter, die in der Nähe »unter dem Deich« wohnte. Das Gefühl tiefer Freiheit war uns quasi ausgerissenworden, aber solche Erlebnisse, die unsinnig disziplinieren sollten, besaßen den Nebeneffekt, dass die Sehnsucht nach freier Bewegung und unkontrollierter Individualität nur wuchs und wuchs. Wo der Staat eingriff, griff er meistens daneben, wo er Menschen ins Passgerechte zwingen wollte, entfernten sie sich nur immer weiter von ihm.
Als ich im Herbst 1962 zum Studium nach Halle kam, ging es zunächst, traditionell für Studenten, »ab in die Kartoffeln«. Da die Ernteeinbringung in jenem Herbst sehr stockte, blieben wir insgesamt sechs Wochen, länger als üblich. Tag für Tag auf die Kartoffelfelder – den Arbeiter-und-Bauern-Staat in seinen wahrhaftigen Furchen kennenlernen! 1962 waren wieder Ersatz-Lebensmittelmarken eingeführt worden, weil es nach dem Kollektivierungsschub von 1960/61 erhebliche Versorgungsprobleme gegeben hatte, besonders Butter, Fleisch und Eier fehlten. Ulbricht ließ verlauten, dass Butter ungesund, Margarine dagegen sehr gesund sei.
Uns Theologiestudenten hatte man bezeichnenderweise mit künftigen Juristen zusammengesteckt, von denen der übergroße Teil bereits zur SED gehörte. Die FDJ-Gruppe der Juristen traf sich jeden Montag extra, um »die Lage« zu besprechen. Dabei ging es wohl vor allem um uns, die unsicheren politischen Kantonisten, gegen die man nicht misstrauisch und wachsam genug sein könne. Auch bei diesem Ernteeinsatz kam jenes wesentliche Syndrom des Systems zum Vorschein, das es zu keiner Zeit besiegen und heilen konnte: Kontrolle, Observation, Einschüchterung; bei allem, was man tat, kam man mit der Machtfrage in Berührung und in Verdacht, sie gefährlich laut stellen zu wollen. Mit den Jurastudenten hatte man uns eben nicht zusammengetan, um Gelegenheit zur Annäherung, zum Austausch zu geben. Es ging um Demonstration und ideologische »Umzingelung«.
Nach 1990 meldeten sich einige dieser Juristen, die zumeistStaatsanwälte geworden waren, unerwartet bei mir. Sie hätten zur innerparteilichen Opposition gehört, schrieben sie und wollten den Kontakt »wieder aufnehmen«.
Wie sich plötzlich alles verkehrte! Der damalige Kreisstaatsanwalt Kreutzer in Wittenberg kam seit November 1989 mehrfach in meine Wohnung, um mit mir über den Weg in den nun endlich zu begründenden Rechtsstaat zu sprechen. Ich blieb misstrauisch, wollte aber den Weg in die Demokratie mit denen befördern, die nun »auf den fahrenden Zug« aufsprangen. Es war doch keineswegs »alles gelaufen«, wie mancher damals sehr Stille nachträglich laut tönt, am meisten die von der »Blockflöte«.
Ein Jugendstaatsanwalt bot juristische Hilfe bei der Aufklärung ungesetzlicher Übergriffe der Staatsorgane in jenem Herbst an. Er erzählte mir, in welch hämisch-bösartiger Weise ich noch Wochen zuvor Gegenstand bei einem Staatsanwaltstreffen gewesen sei.
Kein Geringerer als der Kreisstaatsanwalt war es dann, der mich im Januar 1990 zu einer überraschenden Aktion bat. Der Vorsitzende
Weitere Kostenlose Bücher