Klar sehen und doch hoffen
des Gemeindekirchenrates Dr. Friedemann Ehrig, seit 1979 sehr aktiv in unserer Basisgruppe, der Chefarzt des Evangelischen Krankenhauses, des Paul-Gerhardt-Stiftes, Dr. Bernhard Opitz und ich sollten sofort mit ins Gebäude der Staatssicherheit in die Wittenberger Melanchthonstraße fahren, um gemeinsam zu verhindern, dass dort weiterhin Akten abtransportiert würden: Bürger hätten ihm dies angezeigt, und er als Kreisstaatsanwalt wolle das unbedingt verhindern.
Plötzlich markierte der Obergenosse gegenüber seinen anderen Genossen den Gerechten, der die Gewaltenteilung einklagen wollte, als habe dies schon immer zu seinen juristisch alltäglichen Gepflogenheiten gehört. Der Kreisstaatsanwalt als derjenige, der sich ausgerechnet seiner verlässlichsten Zuarbeiterin,der Stasi, in den Weg stellte, und das vor unseren Augen und Ohren! Eine erstaunlich schnelle Wandlung.
Im Übrigen zu spät! Es war bereits alles ausgeräumt worden. Selbst die Panzerschränke waren leer. Nur eine Pistole und eine Beobachtungsakte über einen Jung-Nazi fanden sich – vor wem hatte man diesen teuflischen Thesaurus schützen wollen? Sollte das gesamte Material tatsächlich gesammelt und vernichtet oder aber vielmehr andernorts gesichert werden – für den Tag der Abrechnung, nach der großen Schlacht?
In einer Krisen-Schulung der Kreissekretäre hatte der feiste, sehr geistesschlicht strukturierte, aber umso unbotmäßigere selbstherrliche SED-Chef in Halle, das ZK-Mitglied Hans-Joachim Böhme, drohend verkünden und auf Kreisebene weitersagen lassen: »Es muss erkannt und zugegeben werden, dass wir in den letzten Wochen ein Gefecht verloren haben, wobei es jetzt darum geht, nicht auch die Schlacht zu verlieren. Veränderungen auf allen Ebenen, und zwar in kürzester Zeit, sind an der Tagesordnung, wobei analysiert werden muss, warum der Feind tiefe Wunden schlagen konnte, ohne dass die Verteidigung wirksam wurde … Es geht darum, das Parteiaktiv zu aktivieren, wobei aber die Richtung und das Ziel anzugeben sind: dem Feind die Faust und allen anderen die offene Hand.« 48 So einfach war das paranoide Weltbild der Partei noch im Oktober 1989.
Lebensbegleiter Stasi. Während meines Studiums von 1962 bis 1967 haben wir insgesamt fünf von fünfundzwanzig Studenten als Stasispitzel enttarnen können. In einem Falle berührte es mich persönlich besonders bitter, weil mich mit Michael ein starkes Vertrauensverhältnis verband und er der mit Abstand klügste Student war. Warum er der Stasi zu Diensten ging und bei denen sogar Seminare über Theologie abhielt, ist mir bis heute nicht klar. Ich hatte ihn 1967 zumAssistenten vorgeschlagen. Gewissermaßen im Austausch. Der designierte Professor Dr. Eberhard Winkler wollte mich als seinen Assistenten gewinnen, aber aufgrund meiner kirchenpolitischen Aktivitäten riet ich ihm ab, zumal ich garantiert nicht akzeptiert würde und seine Ernennung möglicherweise selbst gefährdete. Also beschwor ich ihn, von mir abzusehen, und schlug Michael vor. Es klappte. Doch 1973 verließ Michael die DDR, auffällig konfliktlos, mit Pass, dem Professor geschah nichts, an der Universität wurde nicht nachgeforscht, wo der Westdrang des ausgezeichneten Assistenten wohl seine Ursache und möglicherweise Komplizen gehabt haben könnte.
Umkehr führt weiter – Diskussion über das SED-SPD-Papier mit Edelbert Richter, Erhard Eppler, Rolf Schneider, Dr. Schmidt (CDU), Friedrich Schorlemmer; der Platz des SED-Vertreters blieb frei. Juni 1988
Er hatte jahrelang mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet. Vielleicht war er erpresst worden, vielleicht fühlte er sich schuldig, und zwar im Zusammenhang mit dem Freitod des Inspektors vom Konvikt, in dem wir gewohnt hatten?Michael las mit ihm Nietzsche. Der Inspektor war durch Nietzsche zusätzlich zu schier unüberwindlichen persönlichen Problemen in eine tiefe Glaubenskrise gestürzt worden. Michael war damals gewählter Vertrauensmann unseres Hauses, der sogenannte Senior. Auch der Pro-Senior übrigens, wie Michael aus meinem Studienjahr, gehörte zur Staatssicherheit. Ihn haben wir enttarnen können, weil ein betrunkener Staatssicherheitsoffizier uns in seinem Suff in der Kneipe »Goldene Rose« mitgeteilt hatte, wer bei uns regelmäßig Berichte für die »Firma« schreiben würde.
Pro-Senior Dietrich W. hat seine Kontakte mit Hilfe des damaligen Dekans Professor Erdmann Schott abbrechen können, während seines späteren Pfarramts aber erneuerte er die
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