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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Herzfelde-Schönberg bekannter Stasispitzel. Den gesamten Tag saß er in der Kneipe, direkt an der Durchfahrtsstraße, gewissermaßen der Knabe an der Quelle, ein mieser Knabe, der besonders die Bauern bespitzelte, ihnen missgünstig und lauernd zuhörte, wenn sie im Wirtshaus Pause machten und sich den Luxus gönnten, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Als sogenannter Wische-Max schrieb Willi Baum gekonnt hetzerischeTexte und ist dann 1959 mit seiner ganzen Familie selber in den Westen getürmt. Auch dort wird er sein bisschen Herrschaftswissen ausgebreitet haben; beidseitig verwendbar zu sein ist die Hauptqualität der Charakterlosigkeit – die durch geheimnistuerische Verbreitung alltäglicher Nichtigkeiten die schäbige Illusion füttert, an großer Politik beteiligt zu sein. Das Schlimme nur: Sie ist es, denn sie zerstört Leben, indem sie teilnimmt am Staatswesen, das sich beherrschend und dämonisch dirigierend in jede noch so geringe und unbeschadete Existenz wühlt. Immer leidet ein diktatorisches System an einem irren Perpetuum mobile, das aber der Hauptmotor seines Bestands ist: Es hat stets mehr Spitzel, als es braucht, und es hat stets zu wenig Spitzel, um seine Angst zu dämmen. Das schafft einen Apparat, der gefräßiger und gefräßiger nach Information und Denunziation wird und der sich in Übersteigerungen der Observation, wie sie selbst Kafka nicht ins dunkle Gemüt schossen, am Ende gleichsam selber ins Visier nimmt …
    Spitzel Baum jedenfalls hat mit seinen Anschwärzungen eifrig dafür gesorgt, dass viele Bauern der Gegend das Land voller Angst verließen. Die Furcht vor Bedrängnissen war größer als der Schmerz des Verlustes – von Heimat und angestammten Höfen. Als Kind erlebte ich, wie Häuser plötzlich leer standen, ich bekam etwas mit von einer stetig bedrückenden Stimmung; so abschätzig die Leute über diesen Willi Baum auch lächelten, wie über ein unangenehmes Faktotum mit Nazivergangenheit, er verkörperte doch eine unabweisliche Gefahr.
    2009 traf ich in Salzwedel auf Helmut Stelte. Er und sein Bruder, Söhne eines Bauern in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, waren einst meine nahesten Freunde. Eines Tages war die ganze Familie verschwunden; meine Eltern hatten ihnen geholfen, im Bahnhof Geestgottberg bei Wittenbergein den Zug zu steigen, damit sie über Westberlin das Land verlassen konnten. Bewegender Moment: Nach 57 Jahren habe ich Helmut wiedergesehen. Es war, als gäbe es diese fast sechzig Jahre nicht. Erinnerung hat ihr eigenes Zeitregime; für Bruchteile schien vergessen, was an Geschichte und Geschick, was an Mühe und Zufall in all den Jahrzehnten geschehen war, bis es zu diesem Augenblick auf einem Bahnhof kommen konnte.
    Im Winter 1958, es war abends, stürzte ein Mann ins Pfarrhaus. Ich war allein und hatte ihn trotzdem hereingelassen, denn ihm stand eine große Angst im Gesicht. Mir, dem Vierzehnjährigen, offenbarte er pathetisch, er brauche Hilfe, er benötige unbedingt den Beistand meines Vaters, er werde verfolgt.
    Ich rannte los. Mein Vater war beim Kaffeetrinken im Anschluss an eine Beerdigung. Ich störte, natürlich, und stieß auf Unmut. Ich zerrte meinen Vater geradezu nach Hause, wahrscheinlich überzeugte ihn vor allem mein Geständnis, ich hätte den Fremden im Amtszimmer allein gelassen.
    Mein Vater sprach mit dem Mann und beschied ihm schließlich, nicht helfen zu können, er solle also wieder in seinen Heimatort zurückkehren. Ich beschimpfte meine Eltern: »Einen Hilfesuchenden einfach wieder wegschicken?! Habt ihr nicht gesehen, wie verängstigt er war?«
    Später erfuhr ich, dass dieser Mann ein Lockspitzel der Stasi war, der klären sollte, welche Pfarrer sich an der Fluchthilfe in den Westen beteiligten. Auch meinen Vater hatten die Behörden auf ihrer Liste, und mit diesem angeblich Verfolgten wollte man testen, wie weit mein Vater gehen und ob er einen vermeintlichen Staatsfeind unterstützen würde. Das nannte die Stasi »Legendierung«. Ich war wütend. Man hatte eiskalt meine Gefühle, mein Mitleid missbraucht.
    Begegnungen mit der Stasi, diesem Staat im Staate, diesemMusterungs-Moloch der Partei, sollten fortan, bis zum Ende der DDR, zu meinem Alltag gehören. 1962 hatten wir ein kleines Sommerzeltlager an der Elbe. Alle meine Freunde aus Grundschule, Mittelschule und Oberschule waren dabei, gleichsam als Ferienlagerleiter fungierte mein Vater. Wir lebten dort unter einer Solitäreiche, angelten, schwammen, paddelten, uns wurde

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