Klar sehen und doch hoffen
Zuträgerschaft. In den neunziger Jahren wurde der Seelenverkäufer aus dem Seelsorgerdienst entlassen. Er drückte mir bei einer Lesung in der Uckermark 1994 seine feuchte Hand – in mir geradezu augenzwinkernd einen vermutend, der doch alles versöhnlerisch »durchgehen lassen« würde … Da war die Grenze für mein Verstehen, gar Entschuldigen überschritten.
Von 1967 bis 1971 leitete ich das Studentenwohnheim »Sprachenkonvikt«. Als sich einige Studenten weigerten, an der vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen, wurden sie zwar nicht exmatrikuliert, aber postwendend für anderthalb Jahre zu den Bausoldaten eingezogen. Auf diese Weise übte man erhebliche Zwänge auf die gesamte Fakultät aus. Professoren gaben den auf sie ausgeübten Druck weiter – meist mit der Absicht, »Schlimmeres zu verhindern«. Drei dieser Verweigerer stammten aus dem Sprachenkonvikt, einer kam aus einem der beiden anderen christlichen Wohnheime. Ich habe die vier, nachdem sie eingezogen worden waren, mitten in den Wäldern der Lausitz besucht – und erfahren, wie sie dort gedemütigt wurden und wie ihnen Kontakt fehlte,von ausgebliebener Unterstützung seitens der Universität und der Professoren ganz zu schweigen.
Immer tiefer ins Leben schnitt sich diese Stasispur, diese dauernde Feindlichkeit, dieses unausgesetzte Empfinden, als Fremdkörper gezeichnet zu sein. Im Frühjahr 1971 hatte ich in einer Morgenandacht des Konviktes, die täglich vor den Vorlesungen gehalten wurde, Bertolt Brechts Gedicht »Lob des Zweifels« gelesen. Es stand in Verbindung mit jenen »Weißwäschern«, jenen falschen, von den Mächtigen bezahlten Propheten, von denen der Prophet Jeremia erzählt. Christoph L., der gern Medizin studieren wollte, aber nicht durfte (Pfarrerssohn) und nun Hilfsassistent bei einem Chemieprofessor geworden war, hatte die Verse mit Durchschlägen abgeschrieben und wenig später als Flugblatt im Umkreis des Sprachenkonvikts verbreitet. Auf den Zetteln waren die Umrisse des Staatsgebietes eingezeichnet und der Satz »Die DDR ist ein Gefängnis« notiert. Dies löste erwartungsgemäß eine gewaltige Polizeiaktion aus. Nunmehr war das Haus, für das ich Verantwortung trug, fest und offen im Fokus der Staatssicherheit.
Mehrfach bekam ich Besuch von einem Herrn, der sich mit dem Namen Jacobi vorstellte. Von Beginn an für mich klar: ein Deckname. Rückblickend nehme ich an, dass im Zuge dieser Untersuchungen – in deren Vor- und Umfeld dieser Herr Jacobi wie eine unangenehme Nebelschwade umhergeisterte – mehrere Studenten in erpresserische Situationen kamen. Eine Durchsuchung fand statt, die Wohnräume von L. wurden generalstabsmäßig von sechs smarten Herren durchschnüffelt. Man suchte ein Buch, in dem die Umrisse der DDR zu finden seien, und man suchte, vergeblich, nach einem Brecht-Zitat. Offiziell aber hieß es, auch mir gegenüber, auf dem Gelände der Stiftungen sei wieder jemand umgebracht worden. Im Zusammenhang mit diesem Fall müsseman verschiedenen Spuren nachgehen. Von der Schwester des jungen Mannes hatte ich bereits erfahren, dass er die Flugblätter bewusst ausgelegt und auf Entdeckung gehofft hatte – um ins Gefängnis und über zu erwartenden Freikauf in den Westen zu kommen. Ich hab ihm das damals sehr übel genommen, denn er brachte 36 andere Studenten in akute Gefahr. Er hätte sich vor seiner Aktion eine andere Unterkunft suchen sollen …
Stasi und Polizei fanden den »Täter« heraus. In der Folge erfuhr ich, was politischer Strafprozess und -vollzug in der DDR konkret bedeuteten: Weder zur Verhandlung noch zur Urteilsbegründung wurde irgendjemand zugelassen. Auch die Eltern und Geschwister durften lediglich zur Verkündung des Strafmaßes in den Gerichtssaal kommen. Aber seine »Rechnung« war aufgegangen. Er wurde nach einem Jahr Gefängnis, mit Hilfe von Egon Bahr, von der Bundesrepublik freigekauft.
Im Zusammenhang mit diesem Fall war auch ich zu Vernehmungen in die BV (Bezirksverwaltung der Staatssicherheit), wie es im bürokratischen Jargon so unschön heißt, einbestellt worden. Was ich sagte, tippte der Stasioffizier in seinen ungelenken, hölzernen Formulierungen mit seiner »Erika«-Schreibmaschine ab. Ich musste am Schluss unterschreiben, dass alles korrekt sei. Dies erlebte ich 1982 noch einmal im Zusammenhang mit der Verhaftung eines Assistenten der Mathematik in Merseburg, bei dem man Texte von Jürgen Fuchs gefunden hatte, abgeschrieben aus einem Exemplar des »Spiegel« – das er
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