Klar sehen und doch hoffen
verfügen, sind abgeschaltet. Alles, was wir jetzt sagen, muss jeder Einzelne in besonderer Weise vor Gott und den Menschen verantworten.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Vor Gott und den Menschen. In dieser Reihenfolge.«
Welche Stille im Raum! Aber nicht bedrückend. Wir debattierten wohl anders – sehr viel ernster und konzentrierter ‒, aber nicht weniger offen. In dieser Kirche war ich zu Hause. Auch wenn ich wusste, dass ich keinen äußeren Schutz hatte, so besaß ich doch einen unschätzbar wertvollen inneren Schutz.
Stasi und kein Ende? Doch. Am Ende überwog für mich stets die Kraft, die an ehrliche, gleichgesinnte Menschen band. Eine Kraft, die auch heute alles überwiegt.
Es gehörte damals zum Konspirativen, dass wir mehrfach von Bad Dürrenberg aus nach Röcken pilgerten, hin zu Nietzsches Grab und dort dessen angriffig-tiefgründig Texte lasen. »Gott ist tot. Und wir haben ihn getötet …«
In der Osternacht stiegen wir alljährlich in die stockdunkle Domkrypta, um auf ein Trompetensignal hin gleichsam wieder ins Licht aufzusteigen. Osternacht evangelisch, etwas unbeholfen, eben nicht in liturgischer Perfektion unserer katholischen Geschwister. Wichtig das Erleben des Aufsteigens aus dem Dunkel, das Warten auf das Licht, die Feier des Ostermorgens nach langem Wachen. So entdeckte ich, wie tiefgründig der Bericht der Evangelisten vom Ostermorgen ist: Die staatlich bestellten Wachen vor dem Grab schliefen.
»ICH HABE MEINE ARBEIT GERN GETAN«
Mit dem von August 1978 bis Ende Dezember 1989 für mich »zuständigen« Major der Staatssicherheit Gröber habe ich sprechen können, bevor ich irgendeine Akte gesehen hatte. Vermittelt hatte das der vormalige Sektorenleiter für Kirchenfragen beim Rat des Kreises, der stets auch IM oder gar OibE (»Offizier im besonderen Einsatz«) war. Anfang 1992 habe ich mit Herrn Gröber in meiner Wohnung ein etwa zweistündiges Gespräch geführt, bei dem er eine ganze Schachtel Zigaretten rauchte. Zur Bedingung machte er, dass ich ihm zuhöre, nichts mitschreibe. Er fühle sich noch immer an Geheimhaltung gebunden, wolle mir aber offen erklären, wie er und warum er 24 Jahre bei »der Firma« gewesen war. Ich musste mich zusammennehmen und war immer wieder drauf und dran, ihn rauszuschmeißen. Aber ich wollte von ihm etwas über die inneren Mechanismen der Stasi wissen. Über ihn erfuhr ich viel mehr über deren Machenschaften als aus den schriftlichvorliegenden Akten, in die ich erst später Einsicht nahm. Er schien mir »ehrlich« zu sein, wiewohl gerade dieses Wort durch die Stasi besudelt worden war. Ehrlich wurden die IM genannt, die alles berichteten, was sie bei den zu observierenden Zielpersonen bzw. Beobachtungsobjekten gesehen oder was ihnen zu Ohren gekommen war. In einem der vielen – noch 1989 – von Gröber verfassten Berichte hört sich das so an: »Zur Herausbildung des Gesprächskreises kam es im Jahr 1981. Die Aktivitäten dazu gingen damals schon ausschließlich von dem Sch. aus. Die Ziel- und Aufgabenstellung des Gesprächskreises lässt sich im Ergebnis der Beurteilung des aktuellen Sachstandes wie folgt charakterisieren: Von operativer Bedeutung ist auch bei den realisierten Treffen der zeitliche Zusammenhang zu bestimmten Höhepunkten (Auftritte zu Synoden z. B.). So erfolgte das Treffen von ›Johannes‹ mit Merry am 25. 07. 1988. Zeitlich fällt dieser Besuch in die Auswirkungen des Kirchentages in Halle, bei dem ›Johannes‹ mit dem strafrechtlich relevanten ›Thesenpapier‹ als Exponent der PUT eine wesentliche nationale und internationale Aufwertung erfahren hat. Dies erhärtet die Version, dass sich ›Johannes‹ zu seinem negativ-feindlichen Vorgehen abstimmte. Verbindungen und Kontakte von ›Johannes‹ bestehen in Ländern der SW, insbesondere zur ›Charta 77‹. Nach vorliegenden Informationen der HA VI/2 hatte ›Johannes‹ während des ›Olof-Palme-Friedensmarsches‹ 1987 in der CSSR Kontakt zu dem Bürger Österreichs Reichel, Mathias. … Verbindungen und Kontakte zu weiteren Exponenten der PUT.«
Gröber erläuterte mir, für mich seien Abteilung II, IX, XX und XXVI zuständig gewesen, Abteilung M hätte Briefe über Jahrzehnte hinweg kontrolliert. Die Post von insgesamt vierzig Personen aus Wittenberg wurde in Dessau kontrolliert. Die Telefonabhörzentrale sei in Bitterfeld gewesen. Vier hauptamtliche Stasimitarbeiter seien in Wittenberg für michzuständig gewesen. Der Genosse Stürmer war sein
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