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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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ins Private zurückzogen und fürs erstarrte Draußen eine Sklavensprache trainiert hatten?
    Ich denke bei diesen Fragen auch an Wolfgang B., der mir 1971, als ich Studentenpfarrer in Merseburg wurde, sechs Wochen nach Aufnahme meiner Tätigkeit gestand, dass er mit der Staatssicherheit regelmäßig Gespräche führe. Wir verabredeten, dass er sie nicht abbrechen und mir freilich sagen solle, wofür sich die Staatssicherheit interessiert und wen sie besonders gefährlich ins Visier genommen hatte. Mit B.s Hilfe konnten wir einen Studenten enttarnen, der aus meiner Heimatgemeinde Behrendorf stammte und ein Schulfreund meines Bruders Andreas gewesen war. Emil S. Wieder dieser Schock: Im scheinbar unsprengbaren engsten Kreis saß das Übel, keimte der Verrat.
    In der Studentengemeinde in Merseburg hatte ich gegen die Anfechtungen staatlicher Bedrängnisse zwei Verhaltensmaximen ausgegeben und sie stetig wiederholt: Sollte einer der Studenten angesprochen werden, möge er umgehend sagen, er könne das nicht für sich behalten, er müsse sich seinem Seelsorger anvertrauen. Sofortige Offenheit als Schutz- und Wehrmittel, denn würde man nur einmal zögern, nur einmal einen Schritt auf die Spitzelei zugehen, wäre man schon gefangen im Teufelskreis aus schlechtem Gewissen, Verheimlichungsdrang, Ängsten, also nur sich steigender Anfälligkeit für das Miese. In sehr seltenen Fällen ging ich persönlich auf einen »Verdächtigen« mit einer direkten Frage zu.
    Wenn die Anwerbeversuche mit dem Verweis auf die seelsorgerliche Information an mich als Pfarrer quittiert wurden, wirkte das in der Regel wie ein Exorzismus. Nur ahnte ich nicht den kaltblütigen Hintergrund. Die Stasi präparierte Leute so, dass diese mir ihre Bedrängungsnot nur vorspielten. Sie öffneten sich mir: Sie seien angesprochen worden. Ich riet ihnen zum klaren, offenen, die Stasilockungen ablehnenden Verhalten. Dann kamen diese Leute erleichtert zu mir zurück, ich hätte ihnen sehr geholfen, sie würden nicht mehr von der Stasi belästigt. Die Wahrheit: Sie waren bereits im Spitzeldienst, als sie mich aufgesucht hatten …
    Die Enttäuschung kann sich immer steigern – oft mehr als die Hoffnung. Dass eine der fleißigsten, zuverlässigsten, besonders interessiert wirkenden, in der Leitung der Gemeinde von Anfang an tätigen Studentinnen – Marion S. – seit ihrem siebzehnten Lebensjahr unter dem Decknamen »Katrin« bei der Staatssicherheit war – es wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich habe sie später auch noch, wahrlich aus guter Erfahrung und mit Überzeugung, für eine Tätigkeit im Konsistorium empfohlen. Sie setzte ihre »Tätigkeit« unter meinem Merseburger Nachfolger Axel Noack, unserem späteren Bischof (1997–2009), fort. Sie hatte als absolut Vertraute tiefe Einblick in alles, was wir taten, dachten, sagten. Sie wollte sogar in unsere Wohnung ziehen, weil sie es im Studentenwohnheim nicht mehr aushielte. Wir hatten Marion die Bitte abgeschlagen.
    Meine Frau und ich wollten einen für uns persönlich abgeschotteten Raum behalten. Eine stets für alle offene Wohnung – jenes berühmte offene Pfarrhaus – hat seine Tücken. Unsere Situation war angespannt genug: Jederzeit konnte jedermann kommen. Taufseminare für Erwachsene fanden in meinem Amtszimmer direkt neben dem Schlafzimmer statt. Ebenso kam dort oft der Vertrauenskreis zusammen, die Fotosfür das Deckblatt der Semesterprogramme und andere Fotos der Studentengemeinde wurden in unserem Bad entwickelt und vergrößert. Es herrschte ständiger Trubel, oft bis sehr spät abends. Meiner Frau wurde das verständlicherweise oft lästig. Ich hab ihr viel zugemutet. Mehr, als gut war. Sie musste ja morgens früher raus in die Poliklinik nach Leuna. So offen unser Haus war und sein sollte, so fröhliche Runden sich um unseren großen runden Tisch zum Essen zusammenfanden – das ging ganz und gar nicht immer heiter ab. Und nun wissen wir, dass auch alles noch minutiös protokolliert wurde.
    Ich war seit 1974 Mitglied der Magdeburger Synode. Und so habe ich den gemeinsamen Versuch miterlebt, die nötigen Schlüsse aus der Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz für die Kirche zu ziehen und die staatlichen Pressionen auf unsere Kirche und die Verächtlichmachungen unseres Bruders abzuwehren. Mir ist die Synode vom Herbst 1976 in Magdeburg sehr in Erinnerung geblieben. Der Präses der Synode Martin Kramer hatte zu Beginn der geschlossenen Sitzung gesagt: »Die Mikrofone, über die wir

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