Klar sehen und doch hoffen
bereit, und die entscheidende Schlacht musste kommen.… wir waren bereits vor der Schlacht besiegt. … Deshalb nahm meine Generation den Ausbruch des Krieges gleichsam mit Erleichterung auf. … Diejenigen, für die der Zusammenprall mit dem Faschismus im eigenen Volk das entscheidende Erlebnis war, sahen darin, dass der Faschismus innerhalb einer Septembernacht der Todfeind ihres Volkes geworden war, die Erlösung – darin, dass die Gemeinheit von außen kam, dass sich das Wort Faschist seither für die Polen mit dem Wort Hitlerist verband.« 51
Es gehört zu den bitteren Paradoxien, dass trotz aller Schrecken der Vergangenheit Menschen immer wieder bereit sind, sich faschistischer Denkungsart zu öffnen – meist gemischt mit aggressivem Antisemitismus wie in Ungarn, Russland und Polen. Auch viele Polen wollen nach wie vor nichts davon wissen, dass sie sich anfänglich bereitgefunden hatten, die deutschen Nazis bei der Getthoisierung aller polnischen Juden zu unterstützen. Kein Volk nimmt gern wahr, welche unseligen Verfehlungen aus seiner Mitte erwachsen.
Wer hätte gedacht, dass man dem liberalen, mutigen, klugen Demokraten der ersten Stunde Bronisław Geremek einmal seine jüdische Abkunft und seine Gesprächsbereitschaft mit Kommunisten – besonders in der gefährlichen Übergangszeit zu Demokratie und Freiheit – vorwerfen würde. Als sei es eine Art Erbsünde gewesen, nach der Befreiung vom Nazismus überhaupt Kommunist geworden zu sein.
Brandys schreibt in seinem Tagebuch: »Der Marxismus befreite vom Zweifel: Er führte in die eine Richtung und zu der einen Gewissheit. Die Russen haben aus dieser Gewissheit ein Monstrum gemacht und sie auf dem Gipfel der Lüge inthronisiert.« 52 Auch ihn traf, weil er Kommunist war, in den 90er-Jahren der Bannstrahl des polnischen, strikt antikommunistischen Neonationalismus. Der Schriftsteller spricht wohl auch über sich selbst, wenn er von einem Autor berichtet,der zwei Dinge nicht bereue: dass er in die Partei eingetreten und irgendwann ausgetreten sei. Angesichts des Vorwurfs, jede Nähe zum alten System sei ein Versagen der Intellektuellen vor dem geschichtlichen Auftrag des Freiheitskampfes, fragt Brandys: »Wie, in welcher Form, auf welche Weise soll die Intelligenz an der Verantwortung für den Zustand des Landes teilhaben, wenn jede Regung, die der staatsbürgerlichen Vernunft und dem Gewissen entspricht, Repressionen, Ausschließung, Verlust der Arbeit oder Berufsverbot nach sich zieht?« 53 Was er im Sommer 1980 erlebte, sollten auch wir in der DDR im Oktober 1989 überraschend erleben: »Im Laufe der Jahre habe ich mich mit der Erkenntnis abgefunden, dass die Idee des Kampfes um Gerechtigkeit und Freiheit die Mehrheit der heutigen Bevölkerung überfordert und eine Selbstschutzreaktion bei ihr auslöst. Wahrscheinlich stimmte das. Es stimmte – und stimmte gleichzeitig nicht. Innerhalb eines Sommermonats brach aus den Menschen ein unaufhaltsamer Freiheitsdurst hervor, und mit einem Mal zeigte sich, dass jeder zweite Mensch bereit ist, für Gerechtigkeit zu kämpfen. Noch vor kurzer Zeit schwiegen sie.« 54 Geradezu prophetisch sah der Schriftsteller die alten Gespenster des Chauvinismus und des fanatischen Fremdenhasses wieder auftauchen. »Man muss sich mit der Gewissheit trösten, dass die Zeit den Dingen ihre Form wiedergeben wird. Nach Jahren klärt sich alles – in der Kultur. Die Weisheit der Kultur ist tiefer als die der Geschichte: Sie vermag nicht nur die Tatsachen zu deuten, sie weist den Werten auch ihren Rang zu. Intoleranz, Dummheit und Rückständigkeit haben bisweilen die polnische Wirklichkeit überschwemmt, aber die nationale Kultur haben sie niemals dominiert. Darin liegt ihre Größe.« 55 Polnischer Nationalstolz, verbunden mit dem beständigen Mut, zu sagen, was ist. Für mich ist es ein Ereignis, Erzählungen und Schriften des2000 verstorbenen Kazimierz Brandys nach nunmehr 30 Jahren wieder zu lesen.
Polen. Ein Kontinent meines Herzens. Ich scheue das Pathos dieser Aussage nicht. Die Polen scheuen das Pathos ebenfalls nicht. Selbststeigerung ist eine große, schöne Möglichkeit des Menschen. Wir Deutsche sollten nicht allzu stolz auf unsere Gabe zur Rationalität sein. Sie erfand auch die Logistik von Auschwitz. Und seit Auschwitz, sagt Martin Walser, ist kein einziger Tag vergangen.
Viele großartige Stunden verbinden mich mit Polen. Aber zwei Erlebnisse erzählen wie ein Schlagschatten davon, dass eine historische Zeit die
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