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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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andere ablöst, doch die Zeiten verflucht lange die alten bleiben.
    In den 70er-Jahren wurde ich bei Reisen nach Polen ständig wie ein Schmuggler gründlichst durchsucht, sowohl auf deutscher wie auf polnischer Seite. Als sei meine Sehnsucht nach Kontakt und Bindung gesetzwidrig, sozialismusgefährdend. 1979 fuhr ich mit Kollegen nach Torun und Zamość, wieder wurde ich sowohl auf der Hin- wie auf der Rückfahrt mehrere Stunden an der Grenze festgehalten, während die anderen nach kurzer Ausweiskontrolle passieren durften. Bei der Rückkunft rief mir mein Kollege Dr. Schulz, schon lange im Garten sitzend, zu: »Sie müssen sich doch nicht wundern, Herr Schorlemmer.« Solch ein Satz sitzt lange.
    Bei Werben/Elbe fuhr im Sommer 1991 nachts ein Bus zu einem Zeltlager. Junge Männer, angetrunken, mit Knüppeln bewaffnet, stiegen aus. Sie verprügelten alle Polen, derer sie habhaft werden konnten. Einfach so. Am nächsten Tag verließen die polnischen Urlauber, die schon mehrere Jahre nach Werben gekommen waren, fluchtartig das Land. Die Zeitungen hatten nichts zu melden. Die Polizei wurde nicht aktiv. Es gab keinen Kläger. Die Bürger übergingen stillschweigend – zustimmend? – das Geschehen. Ja, Brüderlichkeit istArbeit. Das Verhältnis zum Nachbarland war, ist und bleibt eine solche Arbeit.
    Wahrlich hat das Wort »Freiheit« in Polen einen anderen Klang als in Deutschland, aber die Widerstandsgewerkschaft hieß nicht von ungefähr »Solidarność«.
REISEN IN DIE GOLDENE STADT – BEGEGNUNGEN AUF DER PRAGER BURG
    Im November 1995 waren Präsident Václav Havel und Richard von Weizsäcker Schirmherren der Vortragsreihe »Gespräche mit Nachbarn« an der Karls-Universität in Prag. Ich war als ein Vertreter der deutschen Öffentlichkeit dazu eingeladen. Eberhard Reimann hatte dieses Projekt im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung initiiert. Auf Grund seiner früheren Dozententätigkeit in Prag konnte er es in vielen Begegnungen einfädeln und begleiten. Ziel der Gespräche war es, den Boden für eine gemeinsame Erklärung beider Länder zu bereiten.
    Ich sollte auch am privaten Austausch zwischen Havel und Weizsäcker auf der Burg teilnehmen. Als der Tross in Windeseile das Hotel verließ, stürzte die Presse hinterher, um ein Wort von Weizsäckers zu erhaschen. Ich verpasste den Anschluss, rief mir ein Taxi und kam eine gute halbe Stunde später auf der Burg an – ich hatte ja kein Blaulicht. Ob ich noch reinkäme? Ich nannte den Pförtnern meinen Namen, sie verlangten keinen Passierschein und brachten mich mit einem Lift nach oben. So konnte ich an einem intensiven, auf die Erfahrungen und Befindlichkeiten der Menschen in beiden Staaten Rücksicht nehmenden, auf Aussöhnung hin angelegten Dialog teilhaben.
    Für Augenblicke hielt ich an dem Fenster inne, aus dem ich 27 Jahre zuvor Alexander Dubček und Josef Smrkovskyhatte winken sehen. Kurz vor dem Ende der Prager Frühlings hatte ich damals auch erlebt, wie viele Tausende Tschechen Tito freiwillig zujubelten, und mich über das herrlichfreche Plakat »Tito da, Ulbricht ne!« gefreut.
    Mit Prag verbinde ich noch andere Erinnerungen. 1981 trafen wir fünf Geschwister unsere fünf Jahre zuvor legal in den Westen ausgereiste Schwester Ulrike, die wir seitdem nicht mehr hatten sehen können. Anfang der 90er-Jahre begegnete ich Eduard Goldstücker wieder. Die tschechische demokratische Aufbruchsbewegung verdankt ihm viel. Er musste 1968 sein Land verlassen. Er hatte die legendäre Kafka-Konferenz 1963 mitorganisiert. Kafkas Freundin Milena hatte er noch persönlich gekannt. Nun sorgte er für die Einrichtung von Erinnerungsorten und -wegen in Prag. Bis zu seinem Tod verband uns eine herzliche Freundschaft.
    Ökumene erlebte ich in der Stadt, als ich am 13./14. Mai 1996 im Goetheinstitut auf einer Tagung als evangelischer Pfarrer mit dem katholischen Priester Václav Maly, heute Prager Weihbischof, in tiefer Übereinstimmung über unsere theologischen Beweggründe bei unserem Einsatz für die politische Freiheit vor und nach 89 sprach. Auf dem Kolloquium erörterten wir, ob die rasante gesellschaftliche Entwicklung an der Institution der Kirche vorbeigeht, nachdem sich gerade die Kirchen dem Totalanspruch der kommunistischen Herrschaft widersetzt hatten und mit ihrem sozialen Engagement in der Konkurrenzgesellschaft gebraucht würden. Von tschechischer Seite nahm neben Maly u. a. Ján Sokol teil. Maly hatte die Großkundgebung von Havel im November 1989 organisiert,

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