Klar sehen und doch hoffen
der Philosoph Sokol hatte zu den Erstunterzeichnern der Charta 77 gehört und war nach seinem Einstieg in die Politik Stellvertretender Vorsitzender des Parlaments der Tschechischen Republik geworden. Mich bewegte besonders, dass die Repräsentanten des demokratischen (und vereinten)Deutschlands und Tschechiens wirklich vertrauensvoll miteinander über den Umgang mit dem Unrecht von 1938 und dem von 1946 sprachen.
Auf Einladung der »Süddeutschen Zeitung« kam ich 1996 noch einmal mit Václav Havel auf der Burg zusammen. Havel sah im Schock über die wiedergewonnene Freiheit eine Ursache für manche der deutsch-deutschen, tschechischdeutschen, tschechisch-tschechischen Spannungen. »Nach einem Rausch kommt der Kater.« Die Metapher vom Rausch und vom Kater hatte ich selbst in meiner Rede am 9. November 1990 an der Bornholmer Brücke in Berlin gebraucht. Auf die Frage des SZ-Redakteurs Michael Frank, ob Kater nicht auch Reue bedeute, meinte ich, bei dem schönen Bild vom Kater gehe es »ums Nüchternwerden, da setzt der Verstand wieder ein. Aber die Ernüchterung ist bei manchem in Enttäuschung umgeschlagen.« Ein von innen heraus befriedetes Land zeige größere Gelassenheit nach außen. Solche Gelassenheit fehle uns in Deutschland »wegen eines asymmetrischen Konflikts zwischen einer großen Mehrheit von Siegern und einer Minderheit, die sich als Verlierer empfindet, die weit mehr abbüßen musste als die anderen«. Aber die Dankbarkeit der Ostdeutschen für die überraschende Wende sei nachhaltig.
Havel ging auf die Ursachen für die im Ostblock bereits seit 1989 mit aller Schärfe zutage tretende Tendenz zur Re-Nationalisierung ein: »In den Völkern wurde jahrzehntelang das Bewusstsein ihrer nationalen Eigenart unterdrückt. … Die Geschichte der Völker wurde manipuliert oder tabuisiert.« Die »kollektivistische Ideologie« habe die Menschen ihrer Selbständigkeit beraubt, als sie plötzlich »wieder für sich selbst bürgen, Verantwortung übernehmen mussten, gerieten viele in Panik. … Viele Kommunisten, Nomenklatura-Funktionäre, sind zu großen Nationalisten geworden.
Mit Václav Havel auf der Prager Burg, 1996
Nachdem ihre frühere rote Fahne nicht mehr modern ist, haben sie die nationalistische übernommen. Eine gefährliche Erscheinung, weil man den Menschen anbietet, dass wieder jemand für sie denken wird. Das bedeutet eigentlich die Rückkehr des Totalitarismus in anderer Form. Man sieht es im ehemaligen Jugoslawien, in der ehemaligen Sowjetunion.« Und ich verwies auf die fatalen Folgen der Tabuisierung des Nationalen bei uns nach 1945. »Wir Ostdeutschen haben permanent eine Selbstwertkränkung erlebt. Wir mussten den größeren Teil der Kriegsschuld allein tragen. Wir durften zudem nicht ›Deutsche‹ sein; wir sollten ›Staatsvolk der DDR‹ werden. Im Vereinigungsprozess kam das Deutsche dann umso stärker heraus, sodass viele Ostdeutsche sogar sagten: ›Wir sind die besseren Deutschen, weil uns Deutschland wichtiger ist, während die Westdeutschen schon zu europäisch denken.‹« Ostdeutsche seien europaskeptischer, entwickelten jetzt keine nationalistischen Gefühlemehr, sondern eher regionale. Ich sei mir nicht sicher, »ob auf dem Seelengrund der Deutschen nicht doch noch viel nationale Überheblichkeit ruht, die so lange gebändigt bleibt, wie es uns sozial so gut geht. Aber in einer sozialen Krise? Ostdeutsche sind noch gefährdeter, weil ihre Selbstwertkränkung andauert …«
2012 frage ich, wer hätte gedacht oder für möglich gehalten, dass ein faschistisches Mördertrio zehn Jahre im Untergrund agieren konnte. Keine Erklärung darf je zur Rechtfertigung herhalten.
Das Gedankenerbe und die so menschliche politische Haltung Havels aber bleiben für ein gelingendes Europa unerlässlich. In meiner Straßburger Meditation (1995) zu Arvo Pärts Berliner Messe sagte ich: »Lasst den Menschen, wer immer er sei, nicht verkommen, notiert Kafka in Prag, der Stadt des freien, des bedrängten Geistes Europas, 1938 verraten und verkauft, 1948 der dritte Fenstersturz – da öffnete sich 1968 das Fenster der Hoffnung. Zweitausend Worte genügten für brüderliche Hilfe mit Tausenden Panzern. Unbeirrbar blieb der Versuch, in der Wahrheit zu leben. Immer sind es Einzelne, die ihre Angst und dann die Angstmacher besiegen.« 56
MEIN LEBEN IN UND MIT DER KIRCHE
ICH GLAUBE NICHT AN GOTT, ABER IHM
Seit meinem 14. Lebensjahr hadere ich mit »dem Glauben«, den mir meine Kirche abverlangte.
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