Klar sehen und doch hoffen
Sonntag für Sonntag. »Wir bekennen jetzt unseren christlichen Glauben«, lautet die Ankündigung/Nötigung des Pfarrers. Wem gegenüber bekennen wir das eigentlich?
In jenem altehrwürdigen Text, geprägt von griechischer Metaphysik mit Hades- und Himmelfahrt, mit der Betonung der fides historica, der Faktizität göttlichen Heilshandelns, konnte ich mich nicht wiederfinden.
Das Apostolikum, das in der westlichen Kirche erst im 6. Jahrhundert allgemein gebräuchlich wurde, ist ein frühchristliches Taufbekenntnis aus Zeiten, da man sich von anderen Göttern abheben musste. Das wissen wir, und so achte ich es auch. Aber ich glaube es nicht, ich glaube so nicht. Es war für mich erlösend, als mich 1962 ein Student höheren Semesters auf das theologische Gesprächsbuch »Kerygma und Mythos« 57 aufmerksam machte. Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm elektrisierte mich. Vergegenwärtigung und Existentialisierung der biblischen Texte. Darum geht es! (Meine Hallenser theologischen Lehrer mieden den Namen Bultmann.)
Bei Bultmann hieß es: » Das Weltbild des Neuen Testaments ist ein mythisches. Die Welt gilt als in drei Stockwerke gegliedert. In der Mitte befindet sich die Erde, über ihr der Himmel, unter ihr die Unterwelt. Der Himmel ist die Wohnung Gottes und der himmlischen Gestalten, der Engel; die Unterweltist die Hölle, der Ort der Qual. Aber auch die Erde ist nicht nur die Stätte des natürlich-alltäglichen Geschehens, … sie ist auch der Schauplatz des Wirkens übernatürlicher Mächte … Der Auferstandene ist zum Himmel erhöht worden zur Rechten Gottes; er ist zum ›Herrn‹ und ›König‹ gemacht worden. Er wird wiederkommen auf den Wolken des Himmels, um das Heilswerk zu vollenden; dann wird die Totenauferstehung und das Gericht stattfinden; dann werden Sünde, Tod und alles Leid vernichtet sein.« 58
Die einzelnen Motive lassen sich auf die zeitgeschichtliche Mythologie der jüdischen Apokalyptik und des gnostischen Erlösungsmythos zurückführen. Aber, so Bultmann, »seine Wahrheit bejaht der Glaube, der nicht auf die Vorstellungswelt des Neuen Testaments verpflichtet werden darf« 59 . Er verwies auf Parallelen zwischen Martin Heideggers religiös neutraler Beschreibung der Existenz des Menschen und der christlichen Verkündigung. »Das in Christus sich ereignende Geschehen ist also Offenbarung der Liebe Gottes, die den Menschen von sich selbst befreit zu sich selbst … Glaube als die Freiheit des Menschen von sich selbst, als die Offenheit für die Zukunft, ist nur möglich als Glaube an die Liebe Gottes.« 60 Bultmann löste damals wahre Stürme der Entrüstung aus, aber mir half er, meinen Glauben vom mythologischen, supranaturalistischen Weltbild zu befreien. Mein Glaube gewann frischen Atem.
Zwölf Jahre nach meiner theologischen Befreiung vom mythologischen Weltbild lernte ich, die Wahrheiten des Mythos von seiner zeitgebundenen Ausdrucksform zu unterscheiden. Franz Fühmann wies mir 1974 in seiner Vorlesung über »Das mythische Element in der Literatur« 61 an der Humboldt-Universität die Spur. Der Mythos erklärt Dinge, die wissenschaftlich unerklärbar sind: Was ist der Mensch, wozu ist er da? Wie wird er fertig mit Sinnlosigkeit, Leid und Tod? Für Fühmann ist der Mythos ein Gleichnis, in dem sich »Subjekt und Objekt,Außen und Innen, Ich und Welt« verschränken. Die »nie ausschöpfbaren« Bilder spiegeln widerspruchsvolle Prozesse des »Menschheitsaußen wie Menscheninnen« wider. An dem Lied »Der Mond ist aufgegangen« verdeutlicht Fühmann, worauf die Faszination der mythologischen Sprache beruht.
Etwa weitere zehn Jahre später lernte ich begreifen, dass Theo-Logie der Theo-Poesie bedarf, wenn sie den Glauben in Bildern, in Geschichten, Gedichten, Gleichnissen, Gebeten in der Sprache und in den Lebenserfahrungen unserer Zeit zum Ausdruck bringen will. Meine weiteren Denk- und Sprechversuche wurden geprägt von Ernesto Cardenals südamerikanischen Psalmen (»Zerschneide den Stacheldraht«, 1967), liturgischen Texten des niederländischen Katholiken Huub Oosterhuis (»Im Vorübergehn«, 1970) und natürlich Dorothee Sölles Gedichten (»Verrückt nach Licht«, 1984).
Sie schrieb, im Werk von Kurt Marti kämen die Schönheit der Theologie, ihr Ernst und ihr Spiel deutlich zum Vorschein. »Poesie, Religion, Politik nehmen Schaden, wenn sie voneinander abgetrennt, in einer geistigen Apartheid nebeneinanderher existieren.« 62 Kurt Marti hat wie Dorothee Sölle
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