Klar sehen und doch hoffen
einer ARD-Kamera das wiederholte, was ich »drinnen« vor den Kirchenleuten wörtlich gesagt hatte: »Wer angesichts der ökonomischen, technischen, ökologischen und sozialpsychologischen Probleme unseres Landes behauptet, die Frage einer Reform liege nicht auf dem Tisch der Regierung, der muss sich fragen lassen, ob er die Kompetenz und nötige Geistesgegenwart besitzt, weiter am Tisch der Regierung zu sitzen. Das Bestätigungsritual vom 7. Mai und die zum Teil zynisch gerechtfertigten Fälschungen und Unsauberkeiten vor und hinter dem Komma (bei noch immer sicherer Mehrheit) lassen keinen Zweifel an der inneren Schwäche der Staatsmacht bei äußerer Stärke der Sicherheitsorgane. Und ich denke, die Stabilität unserer Republik ist wohl nicht so sehr durch eine Explosion gefährdet (der Überdruck geht ja raus!) als vielmehr durch eine Implosion: also außen harte Schale des Machtapparates, innen immer hohler und leerer. Ich denke, die Stabilität eines Landes beruht wesentlich auf der inneren Überzeugtheitseiner Bürger und nicht auf der äußeren Fähigkeit, seine Macht zu sichern, nicht also auf der Funktionstüchtigkeit der Geheim- und Bereitschaftspolizei.«
Daraufhin wurde ich als Anstifter zur Gewalt abgestempelt – ich hätte gesagt, die DDR sei eine hohle Nuss, die man knacken müsse, obwohl man in einer einstündigen ARD-Sendung von Claus Richter am 5. Oktober 1989 über 40 Jahre DDR (u. a. mit Hermann Kant und Monika Maron) genau hören konnte, was ich gesagt hatte: äußere harte Hülle, drinnen nichts!
Eigens aus Leipzig angereiste Demonstranten baten mich, die Übergriffe und Verhaftungen vom 11. September öffentlich zu machen und die Synode zu einer Stellungnahme aufzufordern. Bischof Hempel als zuständiger Bischof und Zeuge der Ereignisse antwortete mit verdichteten Worten. Über der Synode lag eine gespannte Stille. Wir spürten, dass die Konflikte auf eine Entscheidung zuliefen, deren Ende auch blutig sein könnte.
Die Kirche hatte aufgehört, über ihre Leitungsorgane die staatlichen Stellen nur zu bitten. Wir stellten als Kirchenparlament direkt unabdingbare Forderungen an den Staat. Und wir plädierten strikt für die gewaltlose Lösung der Konflikte, woraufhin uns das ND gesamtdeutsche Ladenhüter und Großmannssucht vorwarf.
Die chinesische Angst griff um sich, aber auch eine todesmutige, vom Geist der Gewaltlosigkeit getragene Aufbruchsstimmung, deren zwei Kernsätze lauteten: »Wir sind das Volk« und: »Wir bleiben hier!«. Zunächst hörten die nicht betenden Massen auf die betende Minderheit, um bald ganz eigene Wege ins gelobte Westland zu suchen. Die Kirche hatte, ganz wörtlich genommen, »ihre Schuldigkeit getan« – und sie ist wieder Minderheit, aber in Freiheit.
LUTHER GEGENÜBER LEBEN, LERNEN, LEHREN
Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen auf das gegenüberliegende Lutherhaus mit dem Katharinenportal. Jeden Morgen. Vierzehn Jahre lang. Da war ich Dozent, habe Jahr für Jahr etwa zwanzig Vikarinnen und Vikare in sechsmonatigen Kursen begleitet und in den ersten drei Berufsjahren nochmals je vier Wochen. Immer Luther vor Augen, jenen wortmächtigen Riesen, in Erinnerung an die Stürme der Zeit, die ihm wegen des Auseinanderfallens der Kirche folgen sollten. Widerständiges Bewusstsein glaubte ich ihm schuldig zu sein. Im Theater des Lebens seine eigene Rolle zu spielen. Vier Jahre nach meinem Wegzug aus den Räumen der altehrwürdigen Universität sollte im Lutherhof das so bewegende wie umstrittene Theaterstück »Luther rufen« aufgeführt werden.
In der Nachbarschaft des Genius loci, den Heinrich Heine als größten Mann der deutschen Geschichte gepriesen hatte, zu wirken war wahrlich nicht leicht, aber eine schöne Herausforderung. Heine hatte Gegensätze in ihm vereinigt gesehen: »Er war zugleich ein träumerischer Mystiker und ein praktischer Mann in der Tat … Derselbe Mann, der wie ein Fischweib schimpfen konnte, er konnte auch weich sein wie eine zarte Jungfrau.« 65
Diesen lebensprallen Luther habe ich gesucht, nicht den Standbild-Luther.
Unter dem Wort der Schrift wollte ich meiner Arbeit gerecht werden – prophetisch, seelsorgerlich, selbstkritisch, wegweisend – so gut es ging. Mich nicht über das Wort stellen, aber das ewige Wort in seiner Zeitbedingtheit erkennen und erkennbar machen.
Vierzehn Jahre lang habe ich Morgen für Morgen eine Stunde die Begegnung mit einem Bibeltext eingeübt. Wie redetdieser Text heute zu uns, wo und warum bleibt er
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