Klar sehen und doch hoffen
uns fremd, was gibt er uns auf, und was spricht er uns zu?
Mich beschäftigte lebenslang das Verhältnis von Nähe und Distanz, von Wahrheit und Rücksicht, von Verstand und Gefühl, vom Recht, ein Geheimnis zu haben und zu sein. Ich weigerte mich bald, in Mode gekommene psychotherapeutische Verfahren und Übungen in die Ausbildung einzubeziehen – spätestens als ich erlebte, wie Innerstes aufgerissen wurde, ohne die Wunde wieder schließen oder heilen zu können. Gelungene Verdrängungen, mit denen und von denen wir leben, dürfen wir nicht bloßlegen, ohne die Blöße wieder zu bedecken und alte, wieder aufgerissene Wunden wieder heilen zu können.
Mir ging es zudem um einen Grundrespekt vor dem anderen und vor der anderen. Der Respekt vor einem anderen erfordert Einfühlung, Rücksichtnahme und Höflichkeit. Eine sogenannte unmittelbare, ungeschminkte, ungefilterte Wahrheit, die wir anderen entgegenschleudern, entbehrt des Respekts und der Liebe. Sie hilft dem anderen nicht und zerstört Beziehung. Bonhoeffer hatte in seinem Ethik-Fragment einen mich immer wieder bewegenden Aufsatz unter der Überschrift »Was heißt: die Wahrheit sagen?« hinterlassen. Darin schrieb er: »Es muss die Frage gestellt werden, ob und in welcher Weise ein Mensch berechtigt ist, vom anderen die wahrheitsgemäße Rede zu verlangen. Wie das Wort zwischen Eltern und Kindern deren Wesen gemäß ein anderes ist als das zwischen Mann und Frau, zwischen Freund und Freund, zwischen Lehrer und Schüler …« Die Wahrheit zu sagen sei nicht nur eine Sache der Gesinnung, sondern auch eine der richtigen Erkenntnis und des ernsthaften Bedenkens der wirklichen Verhältnisse, aus denen und in denen man redet. Die Frage nach dem WIE der Worte kann nicht unabhängig von der Frage nach dem WAS des rechten Wortes gestelltwerden. Und umgekehrt. Wahrheit ist auch eine Beziehungsfrage in einer konkreten Situation. »Ich kann schmeicheln, ich kann mich überheben oder ich kann heucheln, ohne eine materielle Unwahrheit auszusprechen und mein Wort ist doch unwahr, weil ich die Wirklichkeit des Verhältnisses von Mann und Frau oder Vorgesetztem und Untergebenem etc. zerstöre und zersetze.« 66
Die Suche nach dem wahren WAS lässt sich nie von der Suche nach dem wahren WIE trennen. Das Wie ist nie nur eine technische Frage. In ihr fällt die Frage nach dem Angemessen mit dem Wirkungsvollen zusammen. Wo das Suggestive und Manipulierende vermieden wird, kommt über die Rhetorik die Humanität neu ins Spiel und macht die Wahrheit auch zum Sprachvergnügen.
AKADEMIEARBEIT: INTELLEKTUELLE, GEISTIGE UND POLITISCHE ZEITGENOSSENSCHAFT
Suchet der Stadt Bestes, hatte der Prophet Jeremia dem Volk im Exil zugerufen. Wie war das zu leben als Kirche im Sozialismus bis 1989, und wie ist das in der pluralistischen Gesellschaft unter den Bedingungen des globalisierten freien Marktes, wachsender interkultureller Spannungen und Konflikte sowie des Kampfes um Ressourcen und ökologischer Krisen umzusetzen? Was als »Modernisierungsschub«, als Sieg des Westens und glückliches Ende des Kalten Krieges, gar als »Ende der Geschichte«, jedenfalls als »Ende der Utopie« ausgegeben wurde, irritierte mich, zwang mich zum Umdenken, ohne in die Fallen neuen Einverständnisses zu laufen, wo Wahrheit statistisch ermittelt wird. Das ist vergleichbar mit dem, was David Riesman vor Jahrzehnten als den Terror des »Man« gekennzeichnet, was Luther als den »Herrn Omnes«,den wetterwendisch, unberechenbaren Common sense gegeißelt hatte. Mich bedrückte nach 1990, dass die erwartete »Friedensdividende« nicht eingelöst, wohl aber die militärische Überlegenheit der USA ausgebaut und die »Charta von Paris« (als Dokument der Erfüllung der Schlussakte von Helsinki und des 20-jährigen KSZE-Prozesses) schnell ad acta gelegt wurde. Was sollte vom gescheiterten Sozialismusprojekt bleiben, was von den Ein-Sichten im Ost-West-Konflikt, was von den Herausforderungen, lokal und global nach Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zu suchen? Ich befürchtete im Osten einen neo-nationalistischen, regressiv-aggressiven Schub. 67 Es kam schlimm – ob in Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen, aber so einfach war das dem Osten nicht zuzurechnen – angesichts von Mölln und Solingen.
In meiner Arbeit als politisch engagierter Pfarrer versuchte ich im Blick zu behalten, dass es immer um unsere kleine Erde in unserem unmittelbaren Lebensumkreis, um die Erde als unsere nährende Mutter
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