Klar sehen und doch hoffen
entgegentrat, und selbstredend tat es mir später leid. Mein Verhalten war die Reaktion nach Lektüre des von meinem Vater aus Westberlin mitgebrachten Buches »Der Nationalsozialismus. Dokumente« von Walther Hofer. Dort las ich von den Verbrechen der Nazis gegenüber Deutschland und der Welt. Aber darin erfuhr ich auch vom verhängnisvollen Hitler-Stalin-Pakt, dessen Existenz in der DDR verschwiegen wurde. Ein Pakt, der vielen Kommunisten gleichsam das Herz brach, sie in ihren Glaubensgrundfesten an Moskau erschütterte, sie in ein quälend diszipliniertes Schweigen trieb.
Was ich da gelesen hatte, war konspiratives Wissen. Aberseit meinem 14. Lebensjahr wusste ich Literatur ganz selbstverständlich zu trennen in erlaubte und verbotene. Zu den gehüteten Geheimnissen daheim im Bücherschrank gehörte auch das Kriegstagebuch von Helmut Gollwitzer, der ein Wort des Propheten Jeremia als Titel gewählt hatte: »… und führen, wohin du nicht willst«. Gollwitzer, der, obwohl er Nazi-Gegner gewesen war, in Straf- und Umerziehungslager in der Sowjetunion deportiert wurde, hat trotz seiner bitteren Erfahrungen an einem grundlegenden Unterschied zwischen dem Sowjetsystem und dem Nationalsozialismus festgehalten. Er schreibt in seinem Tagebuch: »Auch im Stalinismus scheint sich der humanistische Ansatz, mit dem der Marxismus angetreten war, insofern durchzuhalten, als ihm der Sadismus, der den SS-Staat so bestialisch machte, gänzlich fehlt. Die Grausamkeit des Stalinismus ist eine blutleere Grausamkeit. Seine Menschenverachtung ist nicht zynisch, sondern utopisch: Verachtung des gegenwärtigen Menschen als eines ›vorgeschichtlichen‹, um des zukünftigen Menschen willen, der erst der wahre Mensch sein wird. Oder: Sein Zynismus ist der der kalten Zweckmäßigkeit, aber nicht der Zynismus der Triebbefriedigung …« Gollwitzer kannte offenbar damals noch nicht das Ausmaß des Gulag-Systems. Albert Camus hat in »Der Mensch in der Revolte« den Unterschied auf eine ganz andere Formel gebracht: »Der Nationalsozialismus ist die Preisung des Henkers durch den Henker, der Stalinismus ist die Preisung des Henkers durch das Opfer.«
Gollwitzer sollte mir später bei meinem Studium vielfach begegnen – als ein unermüdlicher Streiter für die soziale Botschaft des Christentums, eine Befreiungsbotschaft für die Unterdrückten, die zur Inspiration vieler Achtundsechziger wurde. Er hat das Elend des politischen Kommunismus durchschaut und analysiert, aber in gleicher Schärfe wandte er sich gegen den prinzipiellen, geistlosen Antikommunismusim Westen. Nachdem ich sein Buch »Der Marxismus und der christliche Glaube« gelesen hatte, wuchs mein Interesse, Marx im Original zu lesen, vor allem die Frühschriften, die 1968 in der DDR erstmalig erschienen. Vorher hatten sie im Giftschrank gestanden, selbst in kirchlichen Bibliotheken, zusammen mit Friedrich Nietzsche oder Karl Jaspers.
Der junge Marx mit seiner Idee von der Aufhebung aller Entfremdung wurde plötzlich hochaktuell. Debatten über ein realistisches Menschenbild kamen auf, auch über »Transzendenz«. In den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« fand sich eine geradezu aufregende Stelle über entfremdete Arbeit – die es auch in der sozialistischen Gegenwart gab.
»Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit? Erstens, dass die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen gehört, dass er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert: Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen.« Solche Sätze Marxens nannten wir in der Evangelischen Studentengemeinde in Merseburg 1971 die »Buna-Stelle«. Mit meinen Seminaren zu Karl Marx stand ich bald in der Kritik einiger Eltern und Pfarrkollegen, die mich kommunistischer Propaganda in den Räumen der Kirche bezichtigten. Mich beeindruckte, wie die Oberschülerin Ingrid den Eltern vorgaukelte, sie ginge zur Disko – und in Wirklichkeit zu meinen Jugendseminaren kam.
Die Marx-Texte zur Entfremdung
Weitere Kostenlose Bücher