Klar sehen und doch hoffen
denken, was ihr handelnd zu verantworten habt. Bei uns war das Denken vielfach der Luxus des Zuschauers, bei Euch wird es ganz im Dienste des Tuns stehen. … Gehen wir einer Zeit der kolossalen Organisationen und Kollektivgebilde entgegen oder wird das Verlangen unzähliger Menschen nach kleinen, übersehbaren, persönlichen Verhältnissen erfüllt? Muss sich beides ausschließen? Wäre es nicht denkbar, dass gerade die Weltorganisationen in ihrer Weitmaschigkeit mehr Raum für das persönliche Leben hergeben? … Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und aus diesem Tun.« 12
Das Vermächtnis eines protestantischen Märtyrers. Es trifft meine Auffassung vom Christsein im Allgemeinen und vomPfarrersein im Besonderen. Beten, Meditieren, Nachdenken und zugleich der Welt aktiv zugewandt bleiben.
Der Welt zugewandt bleiben. Was bedeutete das damals, 1960, nachdem ich die Mittelschule abgeschlossen und meine Abschiedsrede gehalten hatte, auf die ich so stolz war? Ermutigung als Auftrag. Die Rede war verhallt – ich jedoch stand erneut vor dem Nichts. Wo eine Lehrstelle finden? Der Sinn stand mir nach »abhauen«. Weg aus diesem Land! Fort von denen, die mich nur immer anfeindeten; sie hatten es in der Schule getan, sie würden es auch künftig tun. Nur raus hier! Aber meine Mutter sagte zu meinem Plan, über die Grenze zu gehen, nur einen einzigen Satz: »Alle oder keiner!« Ohne den Segen der Mutter wollte ich nicht gehen. Allein zu sein in einer fremden Welt, das traute ich mir nicht zu. Auch hing ich zu sehr an meinen fünf Geschwistern und an meinem Zuhause in Werben an der Elbe. Mein Freund, der Tischlersohn Heinz Gereke, war nach Wedel in Holstein gegangen, da er dort seinen Traumberuf als Gärtner ergreifen konnte. Er hatte mir geschrieben, ich solle einfach nachkommen. Gärtner! Das war auch mein Traum. Draußen sein, unterm Himmel, in freier, frischer Luft! Sosehr ich das Lesen mochte, ich wollte nicht in Räumen eingesperrt sein, ich wollte die Natur spüren, mich zu ihr in Beziehung setzen – graben und harken, säen und pflanzen, gießen und hacken, Kirschen und Äpfel pflücken, Rosen und Tulpen schneiden. Die Welt als Garten – gegen alle Wüsten. Den Wundern des Wachsens, des Werdens und Vergehens nachsinnen, die Jahreszeiten nicht nur am Kalender verfolgen, sondern sie leben. Der Traum blieb Traum.
Was sich erfüllte, war lediglich eine sogenannte kirchliche Grundausbildung. Mein Vater gab mir Privatunterricht in Geschichte, ansonsten hatte ich sehr viel praktische Arbeit in der Kirchgemeinde zu erledigen. Beim Bearbeiten der Kirchensteuerkarten im Kreiskirchenamt registrierte ich, dassimmer mehr Menschen sich aus der Kirche verabschiedeten, genötigt durch den Staat oder einfach nur gelangweilt oder unwillig, weiterhin Kirchensteuer zu zahlen. Ich wäre im Übrigen lieber in den Boden versunken, als mich jemals bereit zu erklären, an Türen zu klingeln und um die Kirchensteuer zu bitten, ja zu betteln.
Viermal wöchentlich fuhr ich in die Volkshochschule nach Wittenberge, zusammen mit Rosemarie, der Tochter eines Tankwarts, sowie dem Sohn eines Fleischers, die ebenfalls keine anderen Bildungsmöglichkeiten bekommen hatten. Der Fleischersohn wurde später wunschgemäß Tierarzt, und das ohne jeden politischen Kotau. Auch ich wunderte mich, dass ich ohne jede prüfende, misstrauische Nachfrage ob meiner Herkunft sofort in die Abendkurse der Volkshochschule aufgenommen wurde. Man fragte mich weder nach meiner Mitgliedschaft in einer gesellschaftlichen Organisation noch nach meinen Eltern. Ich hatte lediglich mein Zeugnis der mittleren Reife vorzulegen. Das DDR-System ließ also sympathische Lücken. Wenn man vom totalen Staat spricht, muss man auch von diesen Lücken sprechen, selbst wenn sie Ausnahmen blieben. Ich lernte bei lange emeritierten Lehrern privat Latein, erfuhr dabei von der großen griechisch-römischen Geistesgeschichte, lernte auch das Römische Reich und dessen Machtmechanismen kennen. Wer wusste, was Pax Romana war, verstand
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