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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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später besser die Pax Sowjetica von Stalin bis Tschernenko und die Pax Americana von Truman bis George W. Bush.
    Dennoch blieb ich weiter sehr allein mit meinem Denken. Zum Glück hatte ich immer auch sehr vertraute Freunde und meinen Vater, der mich so ausführlich und geduldig in vieles einweihte – und seine große Bibliothek. Seit 1956 hatte ich interessiert fast jeden Abend im Nordwestdeutschen Rundfunk das »Echo des Tages« mit Nachrichten und anschließenden Kommentaren gehört. Der RIAS war meinem Vater zuantikommunistisch. Am Radio verfolgte ich – da war ich zwölf – die vergeblichen Hilferufe Ungarns; ich war erschrocken, wie die sowjetischen Panzer alles niederwalzten, wie Imre Nagy in eine Falle gelockt und ermordet wurde. Früh begriff ich, was Systemkonfrontation und Kalter Krieg war. Unheimlich, davon zu hören, dass am Suezkanal zeitgleich ein Krieg tobte – ein Agreement der Machtblöcke: Greift ihr nicht ein, greifen wir nicht ein. Über allem die gegenseitige Vernichtungsdrohung durch Atomwaffen. Manchmal, wenn man die Senderfrequenzen suchte: die Stimme Ulbrichts, über den es unzählige Witze gab. Die Witzfigur war auch eine Angstfigur. Als zum Beispiel 1957 an einer Litfaßsäule auf einem Plakat Ulbricht die Nase fehlte, verdächtigte man natürlich sofort mich. Es war immer am einfachsten, mich »vors Loch zu schieben« – das war die gängige Denkart meiner Mitschüler: Ich sei das ja gewohnt, ich hatte doch am wenigsten zu verlieren, mich würde solcher Verdacht doch wohlig bestätigen. So sollten auch Fotos, die Jungs aus der Seehäuser Schule während ihres Besuches kurz vor dem 13. August 1961 in Westberlin geknipst hatten, von mir stammen. Die Wahrheit war, dass ich den Film entwickelte und die Bilder bei uns in der Dunkelkammer des Pfarrhauses vergrößerte. Sie wurden in einem Spind gefunden, und alle Zeigefinger gingen automatisch in meine Richtung.
    Als 1968, am 6. April, der Volksentscheid zur Ulbricht’schen Verfassung stattfand, hatte das DDR-Regime den Gipfel der Volks-Nötigung erreicht. Alle sollten in Betrieben, Verkaufsstellen, Schulen, Universitäten öffentlich erklären, dass sie bei dieser Volksbefragung über die Verfassung mit »Ja« stimmen würden. Die gesamte Stadt Halle war tapeziert mit »JA«-Plakaten. »Ja zur Verfassung« – ob im Fleischerladen oder im Miederwaren-Geschäft, in der Straßenbahn oder in der Kneipe. Des Nachts hatten Unbekannte an den Giebelder Arbeiter-und-Bauern-Fakultät auf dem Gelände der Frankeschen Stiftungen mit Ölfarbe ein riesengroßes Kreuz mit einem Kreis gemalt, und daneben stand »NEIN«.
    Wer wurde verdächtigt? Natürlich das Nest der Konspiration, das Sprachenkonvikt mit 36 Studenten, das ich leitete. Zwei Studenten hatten zudem gerade ihr Zimmer gemalert und in die Fenster mit Leimfarbe – als Ulk – ein »JA« gepinselt. Sechzehnmal. Auch das eine Provokation, die zu dem »NEIN« am Gebäudegiebel passte. Zum Glück ging die Sache glimpflich aus.
    Übrigens gab es immerhin 24 353 ungültige und 409 733 Gegenstimmen bei der Abstimmung zur neuen Verfassung. Jede einzelne dieser Stimmen ein Mutzeugnis gegen das Millionenheer der Gebückten und Überzeugten, der überzeugt Gebückten, der gebückten Überzeugten. Es war das einzige Mal, dass bei »Wahlen« in der DDR eine Alternative bestanden hatte: ein Ja oder ein Nein anzukreuzen. Ohne diese Abstimmung hätte weiter die Verfassung von 1949 Bestand gehabt, die formell noch von der deutschen Einheit ausgegangen war. 1968, das war das Jahr, in dem Christa Wolfs »Nachdenken über Christa T.« erschien. Die Herausgabe der Marx-Frühschriften habe ich bereits erwähnt. Töne der Freiheit kamen aus Prag herüber. Biermann sang sein unvergessliches, so wahrhaftiges, so trauriges, so hoffnungsvolles Lied »Das Land ist still. Noch«.
MEINE KIRCHE, MEIN REFUGIUM – EIN LERN- UND LEBENSORT
    Ich weiß, ich weiß: Wer liebt, übertreibt. Liebe macht nicht blind, Liebe macht in einem Maße sehend, dass andere mit ihren Wahrnehmungsmöglichkeiten oft nicht mehr mit- und standhalten können. Wer liebt, ist Weltengründer, daher dieVermutung, Liebe sei etwas Göttliches. Liebe ist die große Malerin – auf jenen Bildern, die sie dem Liebenden auf die Netzhaut brennt und die ihm unter die Haut gehen, ist die Welt schöner, als sie ist. Die geliebte Welt hat Farben, vor denen die wirkliche Welt verblasst. Liebe ist daher eine Gefahr für die wirkliche Welt. Sie offenbart, was aus

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