Klar sehen und doch hoffen
führen zu Grundfragenunseres Menschseins. Festzuhalten bleibt, dass der »Mensch zur Arbeit geboren ist wie der Vogel zum Fliegen« (Luther), dass Arbeit zur menschlichen Würde gehört. Und der tätige Mensch versteht es, nach den Gesetzen der Schönheit zu produzieren. Das Soziale schließt also durchaus das Ästhetische ein. Man möchte – in der Regel – teilhaben am gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess, statt sich alimentieren zu lassen. Der Mensch muss von seiner Arbeit würdig leben können. Das steht hinter heutigen Forderungen nach einem Mindestlohn.
Als Studieninspektor an den Franckeschen Stiftungen war ich vierzehntägig zur Marx- und Hegel-Lektüre nach Potsdam, ins Johann-Gerhardt-Institut, gefahren. Satz für Satz studierten wir Hegel und Marx. Hans-Jochen Tschiche, der als Linker stets gegen die SED-Ideologie gestanden hatte, war regelmäßig dabei. 1968 hat er auf einem Kreis-Kirchentag in Stendal öffentlich erklärt, fünf Prozent entschlossener Leute würden genügen, ein System – auch die DDR – aus den Angeln zu heben. Fortan war dieser Pfarrer aus dem Altmarkdorf Meßdorf ein von der Stasi scharf beäugter Theologe. Später leitete er die Evangelische Akademie in Magdeburg, 1989 war er Mitbegründer des »Neuen Forums«, 1990 – 1998 Mitglied bzw. Leiter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Landtag von Sachsen-Anhalt und Partner der ersten Minderheitsregierung unter Reinhard Höppner.
Als ich mit Studenten der »roten« Hochschule »Carl Schorlemmer« in Merseburg besagte Frühschriften von Marx las, hatte die Beschäftigung mit dem Säulenheiligen der Marxisten diverse Ideologie-Wächter auf den Plan gerufen. Die Zuträgerschaft des Stasispitzels Emil S., den ich seit Kindheitstagen kannte, kündete allerdings von erschreckender Dummheit. Auch hier der neuerliche Beleg des Geläufigen: Die Systemtreuen stürzten sich beflissen in den Marxismus, umsich nicht mit Marx befassen zu müssen. Und man betäubte sich (und andere!) mit Phrasen befreiender Kollektivität, um den unerbittlichen Despotismus einer Kaderpartei zu vertuschen.
Inzwischen wissen wir, dass etwa 20 Millionen Menschen in den Lagern des Gulag umgekommen sind. Wir haben genaue Kenntnis über die »Säuberungen« der Partei seit der Ermordung Kirows 1934. Rybakow hat in seinem Roman »Die Kinder vom Arbat« die Angst- und Unterwerfungsmaschinerie so beklemmend wie klar beschrieben. Von Tendrjakow, Schalamow, Solschenizyn und Aitmatow liegen Romane vor, die den Glauben an den Sozialismus in der Tiefe erschüttern mussten. Aber eben nicht erschüttern durften. Weshalb die Propaganda, das Gewäsch der Medien, die Dogmatik der Agitation zum letzten Aufgebot eines nicht gewinnbaren Krieges gegen die Wahrheit wurden. Der Film »Die Reue«, ein Produkt der Perestroika, führte in der DDR noch 1988 zu scharfen Attacken in Richtung Sowjetunion und Glasnost, weil die SED just in diesem Film eine Verunglimpfung des Sozialismus sah. In den Zeitungen sollte die Realität zur Unkenntlichkeit verschönt werden. Eine lächerliche, absurde ideologische Züchtung.
Ausgerechnet die sozialistische Schule hatte mich gelehrt, meinen Status als quasi Ausgeschlossener mit immer größerer geistiger Bereitschaft als Bestätigung zu nehmen. So schmerzlich es für einen Jungen ist, nicht dazuzugehören, so sehr fand ich in meinen geistigen Beschäftigungen den notwendigen Halt, ja Unterschlupf. Wo man hinausgedrängt wird, wächst man in etwas anderes hinein.
»Humanität ohne Divinität führt zur Bestialität« – diesen Satz erläuterte Pfarrer Dieter Staemmler, als ich mich mit drei anderen Schülern in Seehausen konspirativ in seiner Wohnung traf. Er war der Sohn des Hitlergegners und BonhoefferfreundesJohannes Staemmler. Wir lasen Bonhoeffers Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, die in »Widerstand und Ergebung« veröffentlicht wurden. Bis heute begleiten, orientieren, stützen mich diese aus dem Gefängnis herausgeschmuggelten Briefe. Im Mai 1944, in meinem Geburtsjahr und -monat, schrieb Bonhoeffer, was mir als Maxime sehr nahegeht: »Wir haben zu stark in Gedanken gelebt und gemeint, es sei möglich, jede Tat vorher durch das Bedenken aller Möglichkeiten so zu sichern, dass sie dann ganz von selbst geschieht. Erst zu spät haben wir gelernt, dass nicht der Gedanke, sondern die Verantwortungsbereitschaft der Ursprung der Tat sei. Denken und Handeln wird für Euch in ein neues Verhältnis treten. Ihr werdet nur
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