Klar sehen und doch hoffen
der Welt werden könnte, wenn es weniger Herrschaft gäbe. Was wir lieben, muss nicht schön sein, aber es wird schön, indem wir es lieben. Klar, dass ich jetzt an SIE denke, meine liebste – Kirche.
Verglichen mit Backsteinkirchen etwa in Stendal und Salzwedel, in Lübeck und Wismar, Stralsund und Bad Doberan, Brandenburg und Soest ist sie nicht die Schönste an sich, aber für mich – weil ein Großteil meines Lebens mit ihr verbunden ist. Sie ist weit und breit nicht zu übersehen, die Kirche meiner kleinen Heimatstadt Werben. Sie ist gleichsam die Letzte, die einem nachschaut, wenn man den Ort verlässt, in welche Himmelsrichtung auch immer, und kehrt man in die Stadt zurück, entbietet ihr stilles riesiges Schiff den ersten Gruß. Sehe ich sie von ferne, bin ich Gott nahe, mir selber nahe. Ihre Schönheit mag schmucklos sein, sie weckt doch Sentimentalität. Sie ist der Back-Stein, der seine aufgesogene Wärme auf mich ausstrahlt. Sie erblickend, rufe ich wieder und wieder mein eigenes Leben auf. Diese Kirche lebt. Und da man die Erfahrung macht, dass mit wachsendem Alter immer heftiger, unabweisbarer die Bilder der Kindheit wiederkehren, sie das Gedächtnis bestürmen, sei es auch erlaubt, wieder kindlich zu fantasieren. So blicke ich unverwandt und erinnerungsselig auf die Werbener Kirche – und bilde mir ernsthaft ein, sie blicke zurück. Fenster können zwinkern, Backstein kann seufzen, eine Kirche kann sogar ihren Turm schütteln wie einen Kopf, wenn wir das nur wollen im Überschwang unserer Rückwendung zu den längst archivierten Kapiteln unserer Biografie.
Im Turm dieser Kirche bin ich 1957 beim Taubenfangen zwanzig Meter hinuntergestürzt. Wer das überlebt, muss es ja geradezu als eine Pflicht übernehmen, lernend ins Wesen der Gnade einzusteigen, also: Theologie zu studieren.
Hier bin ich 1958 konfirmiert und 1969 getraut worden. Und hier habe ich einen Tag nach jenem schrecklichen Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei, am 22. August 1968, meinen Eltern die Silberhochzeitspredigt gehalten – nicht ahnend, dass meine Mutter nur noch drei Jahre Leben haben würde. Freude und Elend, Glück und grausame Einbrüche. Unsere alten Glocken waren 1940 für Kanonen eingeschmolzen worden. 1957, nach einer großen Spendenaktion, die mein Vater erfolgreich bei Christen und Nichtchristen unternommen hatte, konnten vier gusseiserne Glocken wieder eingehängt werden. Bis 1962 habe ich die Werbener Kirchenglocken geläutet, am liebsten die größte mit ihrem tiefen Ton. Ich stand mit anderen Läutejungs ganz oben, spürte eine Freiheit, die ich damals noch nicht ausdrücken konnte. Die Ungebundenheit, das Gefühl des Losgelöstseins hatte etwas mit der Offenheit des Himmels zu tun, und wenn ich hinuntersah, das Gras, die Erde, quasi den Grund erblickte, schloss sich mir der Kreis: Ich fühlte mich aufgehoben, mit den Dingen verbunden, ich empfand mich so groß wie klein und spürte zwischen beidem keinen Unterschied.
Für die Orgel der Kirche trat ich vom zwölften Lebensjahr an den Blasebalg. Während meiner zweijährigen kirchlichen Grundausbildung bestritt ich Kirchenführungen und säuberte das rostende Stahlgerüst für die Kirchenglocken mit einer Drahtbürste. Anschließend hatte ich den riesigen Glockenstuhl mit dem Rostschutzmittel Bleimennige und mit grauer Farbe zu streichen. Das war Fron, und die Geistigkeit des Gebäudes verlor sich in dumpfer Langeweile. Alles in der Kirche wurde mir grau und garstig, ich fühlte mich bestraft,der kalte Stein schaute kalt zu. (Damals war noch nicht einmal an ein ablenkendes Kofferradio zu denken.)
Die Kirche offenbarte mir auch ihre dunklen, verschwiegenen Stellen, das Gotteshaus wurde mir Verbündeter in wahrlich zweifelhafter Angelegenheit: Im Gewölbe versteckte ich einen gefundenen Browning mit sechzehn Schuss – »für den Tag der Revolution«. Damals war ich vierzehn. Schießen wollten wir nicht, mein Freund Heinz Zschache und ich, aber drohen können. Als wir vernünftiger wurden, 1960, hat Heinz die Waffe in das alte Hafenbecken, den Bunhaken, geworfen. Mein Vater las davon erst Anfang der neunziger Jahre in einem meiner Texte, und obwohl inzwischen so viel Zeit vergangen war, sprach er fast ein halbes Jahr nicht mit mir. Wie doch Ängste dauerhaft ihr Regime in uns errichten, wie sie uns auf seltsam unberechenbare Weise festhalten und der Zeit nicht gestatten, das berühmte Gras wachsen zu lassen. Plötzlich waren in meinem Vater böse
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