Klar sehen und doch hoffen
was –wir sind ja mitten im unwägbaren Leben – nicht gut gehen wird.
Dieses geliebte Gotteshaus steht in Werben, so steht es also mitten in der Welt der Sünder. Es ist ein Prachtbau für den Wanderprediger aus Nazareth, aber auch hier prunkten die Herrschaftswappen hoher Herren; auch hier, im Haus des Bergpredigers für den Frieden, fanden Lobpreisungen von Kriegen statt. Die Gebete sind wehrlos gegen den Charakter dessen, der sie tönend in den Mund nimmt, nicht der Gnade wegen, sondern um der eigenen Macht willen. Wehrlos sind die Gebete, wenn Altar gesagt und Thron gemeint ist. So frage ich mich: Wie wurde hier gepredigt zum Sedan-Tag am 2. September, am 1. August 1914, am 9. November 1918, nach dem 30. Januar 1933, nach dem 9. November 1938, wie nach dem 8. Mai 1945? Seit meinem 14. Lebensjahr frage ich mich: Wie wurde Religiöses von der Kanzel herab politisch instrumentalisiert? Was wurde mit einem Schweigen übergangen, das gegen christliche Gebote verstieß und Untertanen noch untertäniger machte? Du kannst noch so gegen die Mauern starren, der Geist der Jahrhunderte ist verklungen, verebbt, aber da ist er dennoch. Er zeigt sich im Fragen, das kein Ende nimmt, in der Unruhe, die bleibt und aus dem Erinnern eine Handlungspflicht fürs Jetzt keltert.
Aufbewahrt in der Kirche von Werben ist die sogenannte Goldbeck-Bibel von 1545 mit der wundervollen persönlichen Widmung Martin Luthers, einer Auslegung des Psalms 1,1–2:
Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen,
noch tritt auf dem Weg der Sünder
noch sitzt, wo die Spötter sitzen,
sondern hat Lust am Gesetz des Herrn
und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht.
Der rote Luther befragt den schwarzen, Gottesdienst zur Raderfahrungstagung in Wittenberg 2003
Ein hart merklich Wort ist das, daß außer Gottes Wort alle Menschenlehre sogar verdammt sind, daß sie heißen der Gottlosen Rat, der Sünder Weg, der Spötter Sitz, und Gott nichts von ihnen wissen will.
Auch wir sind Spreuen, die der Wind verweht. So doch Rat, Weg, Sitz schöne, herrliche Namen sind und gleißen zur Verführung der Welt.
Auch wir Heutigen sind Spreuen, auch wir sitzen da, wo Spötter sitzen; auch wir sind Menschen, die nicht über die Thora, der Weisung Gottes, Tag und Nacht nachsinnen, sondern Tag für Tag einfach dahinleben. In meiner Kirche, in unseren Kirchen ist es Oberwort und Überwort: Gott. Kirchenräume verleiten dazu, dieses Wort nicht nur selbstverständlich, sondern gedankenlos, gewohnheitsmäßig, routiniert auszusprechen. Gerade als Pfarrer sage ich: Just in der Kirche sollte es ein Wort bleiben, in dem das Unverfügbare sein Recht behält, das Geheimnis bewahrt bleiben möge, das Rätsel nicht zur Lösung gedrängt werden darf. Wer es in einem befreienden und bergenden Sinne ganz intim gebraucht, sollte sich stets auch die andere Seite der Deutungen vergegenwärtigen. Über Jahrtausende, Jahrhunderte, Jahrzehnte, Jahre, ja von Stunde zu Stunde ist das Wort »Gott« ge braucht und miss braucht worden. Darin teilt es das Schicksal aller großen menschheitlichen Begriffe. In meines Vaters Bibliothek fand ich das 1936 erschienene Buch »Gottesfinsternis« des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Darin heißt es: »Welches Wort der Menschensprache ist so missbraucht, so befleckt, so geschändet worden wie dieses! … Wir können das Wort ›Gott‹ nicht reinwaschen, und wir können es nicht ganzmachen; aber wir können es, befleckt und zerfetzt wie es ist, vom Boden aufheben und aufrichten über einer Stunde großer Sorge.«
Es war der Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche, der in seinem Buch »Die fröhliche Wissenschaft« einen tollen Menschen am hellen Vormittage eine Laterne anzünden und auf den Markt laufen und unaufhörlich schreien lässt: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!«
Dieser tolle Mensch ruft: »Wohin ist Gott? Ich will es Euch sagen?! Wir haben ihn getötet – Ihr und ich! Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochtenwir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? … Gott ist tot! Gott
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