Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
Vom Netzwerk:
Vorstellungen hochgestiegen: Was wäre geschehen, hätte man unser Versteck entdeckt? Wäre er verhaftet, verurteilt und nach Bautzen verschleppt worden? Hätte das Urteil gegen uns Kinder Jugendwerkhof geheißen? Die Kirche stand und schwieg, und oft habe ich mit gemischtem Empfinden ins Gewölbe geschaut.
    Vor dem Chorraum der Werbener Kirche hat 1971 der Sarg meiner 49-jährigen Mutter und 1995 der meines 83-jährigen Vaters gestanden.
    Seit einigen Jahren habe ich in Werben ein kleines Häuschen, ich blicke auf den hohen Chor der Kirche, vor allem bei Sonnenuntergang geht mir das Herz auf. Schaue ich inständig auf diese Kirche, stark beschäftigt mit der eigenen Geschichte, dann vollzieht sich ein Austausch, dann wird der gebaute Backstein ein Wesen, das zu den Abschieden und Heimkünften gehört. Die Kirche erscheint mir stets wie eine große im Lichte rot leuchtende Glucke. Das Leuchten istwahrhaft ein Heim-Leuchten, wenn ich aus Richtung Behrendorf, Wendemark oder Räbel komme. Am strahlendsten leuchtet sie, wenn ich mit dem Fahrrad am Deich entlang im Gegenwind fahre.
    In meiner Heimatstadt Werben
    Am Lichteinfall in der Kirche habe ich die Tages- und Jahresrhythmen erkannt, frühmorgens, mittags, abends, nachts. Wintersonne, Frühlingssonne, Sommersonne, Herbstsonne. Auch Herrschaftskritik habe ich hier studieren können, als drastischesBild ausgerechnet in ein Kirchenfenster gemalt. Auf diesem Bild werden die hohen Herren gefesselt in den Schlund der Hölle geschoben, und der Teufel heißt Mammon. Er befehligt, er besticht alle. Er denkt, dass alle käuflich sind, alles in der Welt sich einzig ums Geld dreht. Und die Menschen meinen, Geld würde nicht stinken. Nur einer steht dem Teufel gegenüber, und man weiß auf den ersten Blick: Er ist anders, er stellt das Gesetz der bösen Erfahrung in Frage, er steht allein gegen den Lauf der Welt – und doch nicht allein: Er hält zwischen sich und den Teufel, der lockend seinen Goldteller präsentiert, die Heilige Schrift. Das gute Wort, das den Menschen wertschätzend, hoffend übersteigt und in dem »Gott« alles ist, nur kein Allerweltswort. Wie die Kirche kein Allerweltsort ist.
    Der gotische Kirchenraum mit dem wunderbaren St.-Annen-Altar schenkt Freiheit. Gehe ich konzentriert durch die dreischiffige Hallenkirche, bin ich umfasst von Erhabenem und Erhebendem; eine Strahlung aus 560 Jahren. Ein Haus, gebaut aus gebrannten Ziegeln, gebranntem Lehm. Der Lehm, aus dem der Mensch wurde, nutzbar gemacht auch für ein architektonisches Wunderwerk, das Jahrhunderte überdauerte und weiter herausragt aus allem, was einer rasch und fortwährend wirkenden Vergänglichkeit anheimgegeben ist.
    So überschaubar diese kleine Hansestadt Werben ist, so weitet sich die Welt, wenn man ins Halbdunkel dieser Kirche tritt, die mir oft auch wie eine riesige Hütte vorkam, Schutzraum gegen das Draußen, Zuflucht vor den Zumutungen des Gott-Losen, plötzlich nicht mehr aus Stein, sondern aus Stroh und Schilf und Geäst. Ich bin in diese Kirche hineingegangen, als kröche ich unter, zu Zeiten, da Gott ein Unwort war, vier Buchstaben zum Lächerlichmachen. Ich aber wollte ernst sein, wollte ernst nehmen, was draußen ideologisch-anmaßend diffamiert wurde.In einer verzweckten Welt ist und bleibt das Gotteshaus ein Gebäude, das keinen errechenbaren Zweck, aber Sinn verkörpert. Offen ist die Werbener Kirche zum Osten hin, woher das Licht kommt. Nach Westen hin geschlossen und wehrhaft mit jenem mächtigen Turm versehen, dessen prächtige Spitze im Dreißigjährigen Krieg von Tillys Truppen abgeschossen wurde. Ein Haus, das sich wahrlich auftürmt, es zeigt hoch hinaus, zur Ehre Gottes. Zu armen Zeiten auch ein verlässlicher Ort für Arme. Von Gesängen widerhallend die Mauern, inniglich vermischt der Freudenchoral mit dem Trauergesang. Hier haben sich mir die Kirchenjahresrhythmen tief eingeprägt: Advent, Weihnachten, Epiphanias, die Passionszeit und der Kulminationspunkt des Lebens, das Osterfest. Sodann die Themensonntage: Quasimodogeniti, Kantate, Rogate, Exaudi, Misericordias Domini, Himmelfahrt und Pfingsten, das Fest der Dreieinigkeit, Trinitatis genannt, der Jerusalemsonntag und das Erntedankfest, der Bußtag und der Totensonntag. Dann wieder: »Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe«. Jahr für Jahr, was Jahrhundert für Jahrhundert überliefert wurde: Taufe. Abendmahl. Einsegnungen und Trauungen. Bitt- und Dank- und

Weitere Kostenlose Bücher