Klar sehen und doch hoffen
Gedenktage. Jeder Tag ein Kosmos an Geist und Gefühl. Jedes Fest eine Vielfalt an Versenkungsund Öffnungsmöglichkeiten. Jeder Anlass eine Feier der Gnade, eine Feier der Dialektik von Leben und Tod, Werden, Vergehen und doch bleibender Beständigkeit.
Immer haben mich die Glocken gerufen, hat mich die Orgel beim Singen begleitet. Hier wurde vor einem dreiflügeligen Marienaltar das Brot gebrochen, von der Kanzel wurde mir (manchmal) das Wort hörbar, das nicht abkanzelt und doch in meine Mitte trifft – und wo am Taufstein das Neugeborenwerden von Neugeborenen gefeiert wurde: Der alte Adam wird ersäuft. Eine neue Kreatur ist möglich, vorweggenommenim Vertrauen auf den, der Vertrauen gelebt und gelehrt hat. Hier bin ich Mensch. Hier darf ich sein, der ich bin. Hier kann ich über mich hinauswachsen – aus Gnade und mit neuem Selbstbewusstsein. Ein Platz, an dem Ängste aussprechbar sind, wo man ohne Furcht, aber mit tiefer Ehrfurcht sitzt, lauscht, schweigt, singt, betet, lacht, weint. Hier hat jeder Zutritt, hier verlieren weltliche Unterschiede ihre Geltung. Und doch drängen die weltlichen Gepflogenheiten, die Privilegien herein. Praktiken der bevorzugten Platzierungen, der protokollarischen Hervorhebungen hatten sich auch in den Kirchen etabliert. Folgende Schreckensvision, heute noch als Irrwitz belächelt, könnte eines Tages Realität sein: VIP-Lounges im Gotteshaus! Und der Gottesdienst ein Event! Bis sich die Sparte der Unterhaltungssendungen wie ein Krebs noch durch die letzten, ja: heiligen Inseln der Besinnung frisst?
Kirchen mit ausgewählten Plätzen für Leute, die sich demnach als Auserwählte fühlen dürfen, sind kaum christlich zu nennen. Sie sind sinnentstellend eingemeindet worden in einen bürgerlichen Kulturbegriff des falschen Tempelgeistes, der wieder soziale und Standesgrenzen zu ziehen versucht. Aber der Tempel des Heiligen Geistes sind immer wir selbst; in uns, durch Versammlung (ohne Platzschilder) und gemeinsame Sammlung weitet sich der Raum Kirche – auch die vollste Kirche sollte wie eine Einladung für weitere Bedürftige draußen anmuten. So heißt es im Psalm 84: »Die Schwalbe hat ein Nest gefunden – deine Altäre Herr Zebaoth«, und der im Innersten erschütterte Beter des Psalms 42/43 blickt wehmütig zurück, wie er »einherzog in großer Schar mit Frohlocken und Danken zu Seinem heiligen Berg und Seiner Wohnung (dem Jerusalemer Tempel) und anschauen konnte die schönen Gottesdienste des Herrn mit Freude und Wonne«.
»Meine« Werbener Kirche wurde mir zum Ausgangspunkt,den Sonntag zu begreifen. Später waren die Moritzkirche in Halle, der Merseburger Dom und die Wittenberger Stadtkirche gute Lehrer in dieser Sache. Der Sonntag ist der Tag der Unterbrechung, der Tag, da wir unser Tagwerk bedenken, da wir ausruhen, nachdenken, zu uns selbst kommen, Freisein genießen. Mir, dem Kinde, erschienen die Sonntage langweilig. Die Verlangsamung und bewusste Ereignislosigkeit, die unsere Eltern sorglich pflegten, widersprachen meinem Gemüt, das auf Geschehen aus war, nicht auf Kontemplation. Und heute? Noch immer bedarf es des Lehrers für eine sinnvolle Langeweile, die gleichsam als zurückeroberte Zeit empfunden wird. Das ist bei allem guten Willen nicht einfach in einer Welt, die sich keine Zeit mehr gestattet für natürliche Licht- und Bewegungsabläufe; das Dunkel ist durch permanente Lichtverschmutzung ausgemerzt, durchgehende Ladenöffnung bestimmt den Rhythmus, und fortwährende Erreichbarkeit ist zur Selbstpflicht geworden. Wir sind Gejagte, erreichen jeden Hof nur mit Müh und Not, und die Ruhe in uns: längst tot … Der Sonn-Tag ist ein FreiTag, die Woche beginnt mit dem Sonntag und endet nicht mit dem Wochenende – das habe ich zu leben versucht; dieser Rhythmuswechsel ist ein aktiver Vorgang, und für diese Bewusstwerdung, die nie abgeschlossen ist, war der Kirchgang für mich wesentlich. Die Kirche ist ein kathartischer Raum, ein Raum der inneren Reinigung. Eine stilvoll gepflegte, geöffnete Kirche als Raum der Stille bleibt eine heilsame Störung unseres Alltags. In diesen Räumen mit Liebe, Kraft und Fantasie den Gottesdienst zu gestalten – als ein Ereignis für die kommende Woche, aus den Erfahrungen der zurückliegenden Woche heraus! Mit dem Transzendenzgefühl: Was ist, ist nicht alles. Es gibt etwas, das uns überschreitet, aber mich als Einzelnen nicht übergeht. So geht es sich gut in die nächste Etappe Zeit. Gütig. Und gut betraut für all das,
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