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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Widerstandes in finsterer Zeit, in der ihre älteren Brüder und Väter aktiv gewesen waren. Sie, die »Babys«, setzten diese Haltung nun fort, bekräftigten einander, unter gänzlich anderen Bedingungen, im nicht minder befehdeten aufrechten Gang gegen die Unfreiheit. Einer der Protagonisten war der frühere Studentenpfarrer JohannesHamel, der 1953 »wegen antidemokratischer Tätigkeit« mehrere Monate in Stasiuntersuchungshaft gesessen hatte. In den »Zehn Sätzen zu Freiheit und Dienst der Kirche« von 1963 wies Hamel den Totalitätsanspruch der SED zurück. Das führte seinerzeit zu heftigen Kontroversen, vor allem zum Vorwurf des offenen Antikommunismus. 1957 war der Leipziger Studentenpfarrer Siegfried Schmutzler zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden wegen »Boykotthetze im Dienste der Nato«. Er sei ein Staatsfeind, der die Evangelische Studentengemeinde als illegale Organisation aufgebaut und in seinen Dienst gestellt habe. In den westlichen Evangelischen Akademien säßen seine Auftraggeber. Wer sich als Nichttheologe zur ESG hielt, musste also wissen, in welche Verdächte er geriet.
    In diesem Kreise wurde auch der Verfassungsentwurf von 1968 diskutiert und dazu ermuntert, sich an der propagierten öffentlichen Diskussion zu beteiligen, die in Wahrheit natürlich nur eine Aufforderung zum Lippenbekenntnis war. Auch ich beteiligte mich, schrieb an die SED-Zeitung »Freiheit« und an den Volkskammerausschuss. Wenn ich meinen Text heute lese, berührt mich der devote Ton peinlich; er wird unverständlich, sofern man nicht die Atmosphäre jener Zeit mit berücksichtigt. Ich wollte meine Kritik ausdrücken, aber gleichzeitig vermeiden, als Staatsfeind gebrandmarkt zu werden. Wer etwas bewegen will, so mein Grundimpuls, muss eine Gratwanderung versuchen, die immer ein Risiko des Missverständnisses birgt. Was nur höflich klingen soll, kann als Unterwürfigkeit interpretiert werden. Ich habe mich diesem Missverständnis im Sinne meiner Bemühungen um Gespräch und Dialog stets ausgesetzt – und die Anwürfe aus dem Freundeskreis, der dadurch an manchen Stellen Risse bekam, ertragen.
    Zur Zeit jener öffentlichen »Debatte« über den Entwurf einer neuen Verfassung lud ich den Vorsitzenden der HallenserCDU-Ortsgruppe ins Sprachenkonvikt ein. Unvergesslich ist mir, wie uns dieser »SED-Christ« klarzulegen versuchte, Gewissen sei ein idealistischer Begriff und habe daher in einer sozialistischen Verfassung nichts zu suchen. Die vielen Interventionen – vor allem von Christen – konnten immerhin erreichen, dass in Artikel 20 »Gewissens- und Glaubensfreiheit« als gewährleistet angegeben wurden. Die Verfassung von 1968 war noch vom Fortbestehen der deutschen Nation ausgegangen: »Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation.« Unter Honecker wurde die Verfassung 1974 erneut revidiert. Für deren Annahme wurde nicht einmal mehr die Pseudopraxis einer Volksabstimmung bemüht. In der neuen Verfassung hieß es schlicht und bestimmend: »Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern.« Zugleich schrieb man 1974 fest: »Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet. Das enge und brüderliche Bündnis mit ihr garantiert dem Volk der Deutschen Demokratischen Republik das weitere Voranschreiten auf dem Wege des Sozialismus und des Friedens.« Also waren wir plötzlich Staats-Volks-Eigentum. Die Verpflichtung, für ein vereintes Deutschland zu wirken, wie es die Verfassung von 1968 – freilich unter sozialistischem Vorzeichen! – noch vorgesehen hatte, wurde gestrichen. Daher blieb es für mich und meine Freunde sehr wichtig, dass die Bundesrepublik an der Einheit der Nation in zwei Staaten, festhielt und zu einer Entspannungspolitik fand, die uns im Osten das Leben erträglicher machen sollte.
    Hundertvierzig Mark habe ich in jedem Monat als Stipendium bekommen. Von meinen Eltern konnte ich keine finanzielle Zuwendung erwarten. Sie hatten Mühe, fünf schulpflichtigeKinder zu ernähren und zu kleiden. Also arbeitete ich, um meine Lage etwas aufzubessern. Zunächst fand ich für nächtliche Verladetätigkeiten Anstellung auf dem Güterbahnhof Halle. Besonders begehrt war der Dienst an staatlichen Feiertagen, dem 1. und 8. Mai sowie dem 7. Oktober, denn dann gab es für Nachtarbeit 100 Prozent Zuschlag. In der Kaffeefabrik schleppte ich Säcke im

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