Klar sehen und doch hoffen
Akkord; nebenbei stopfte ich mir die Hosentaschen mit grünen Kaffeebohnen voll, die ich zu Hause in der Pfanne röstete. Auch kellnerte ich, freilich mit wenig Glück und Schüben der Verzweiflung: Weil öfters Gäste die Zeche prellten, musste ich, was ich zu verdienen trachtete, bei der Abrechnung draufzahlen. Einmal, in den Ferien 1965, fuhr ich für insgesamt 165 Ostmark Telegramme aus, zwei Wochen lang, täglich acht Stunden, auf einer AWO, einem sehr schweren Motorrad, durch ganz Halle.
Als ich 1962 in die Arbeiterstadt Halle gekommen war, befand sich die DDR gerade in einer dramatischen Versorgungskrise. Erst 1958 hatte der Staat die Lebensmittelkarten abgeschafft, aber in Folge der Kollektivierung sank die Produktivität der Landwirtschaft, es fehlte in erheblichem Ausmaß an Lebensmitteln des täglichen Bedarfs, an Butter, Fleisch, Wurst, Eiern, Käse. So bekamen wir erneut (umfirmierte Kohlen-)Marken, die beim Einkauf nach einem bestimmten System im Laden abgeschnitten wurden. Aber gehungert haben wir keinen einzigen Tag, denn das billige Brot ging nie aus, man konnte sich zur Not Schmalz auslassen. Auch Hering gab es immer – beim Braten der Fische verpestete allerdings der Zwiebelgeruch das gesamte Haus. Für gemeinsame Sonntagsmahlzeiten in der Evangelischen Studentengemeinde, »frommer Löffel« genannt, legten wir unsere Marken zusammen. Es ging nicht nur um Verköstigung, es ging um die stärkende Gemeinschaft, die sich oft genug zu wehren hatte gegen staatliche Bedrängungen und derenKraft im gegenseitigen Vertrauen lag, mit dem wir uns gegen besagte Pression wappneten. Zweimal zum Beispiel erlebte ich es in meiner Studienzeit, dass »Wahlschlepper« in unser Haus 8 in den Franckeschen Stiftungen kamen. Diese staatsbeauftragten Propagandisten verbanden Intelligenz mit geschickt dosierter Drohgebärde. Wir sollten »unserem Staat« doch nur »dankbar« sein und zur »Volkswahl« gehen. Wir kochten ihnen freundlich Tee, diskutierten ungelenk, ironisch und polemisch mit ihnen – aber natürlich würden wir nie zu einer Wahl gehen, die diesem Begriff spottete.
Während meiner Studienzeit ging ich fast jede Woche in ein Konzert, auch ins Theater. Das war erschwinglich und entlastend – die Mühsal, sich durch die Realität zu leben, wich von Schultern und Seele. Der Balsam der Kunst wirkte heilend und tröstend und kräftigend. Freilich galt es zugleich, hinter die pädagogischen Vereinfachungen sozialistischer Propaganda zu blicken, die auch den Kunstbetrieb dominierten. Zwischen den Zeilen lebte in jedem Klassiker das kritische, über das leidig Gegenwärtige hinausschießende Wort; wir saßen nicht zurückgelehnt im Theatersessel, sondern nach vorn gereckt, begierig nach scharf-sinnigen Gedanken. Am Handlungsort Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Halle wurde 1967 die »Die Aula« nach Kants gleichnamigem Roman erstmals inszeniert, ich war begeistert über Kurt Böwe als »Trullesand«. Endlich bot Theater Diskussionsstoff außerhalb der gestanzten Ideologie.
Wenn ich heute die Franckeschen Stiftungen besuche, wo ich entscheidende, bewegte Jahre meines Lebens verbrachte, schlägt mein Herz höher. Erinnerung stimmt wehmütig. Sie ist mit Gedanken an jene Unwiederbringlichkeiten verbunden, welche die Strecke unseres Lebens säumen. Was wurde hier in zwanzig Jahren Großartiges beim Wiederaufbau und bei der Wiederbelebung der so frommen wie sozial-pädagogischenIdeen August Hermann Franckes geleistet! Aber Halle blieb für mich stets ein besonderes Sinnbild für die Betonkultur des SED-Regimes. Die Stadt war vom Krieg weitgehend verschont geblieben, man hatte jedoch zu DDR-Zeiten alles getan, um das Stadtbild auf andere Art zu zerstören: durch Monumentalisierung. Da war die Wucht eines Denkmals, das aus etwa acht Meter hohen Arbeiterfäusten bestand, da waren die Wohnsilos von Halle-Neustadt, und da ist bis heute jene Betonhochstraße, die wie ein harter Schnitt durch die Stadt geht. Sie führt unmittelbar an den Franckeschen Stiftungen vorbei, und mehr denn je wirken sie wie eine Insel der alternativen Sicht – in unmittelbarer Konfrontation mit einem kalten Geist rationaler Zugriffe auf die Welt. Was die Altstadtverfallspolitik (»Ruinen schaffen ohne Waffen«) der SED übriggelassen hat, wurde inzwischen weitgehend saniert.
Ich fahre gern nach Halle, diese zu Unrecht noch immer verpönte »Kulturhauptstadt« unseres Bundeslandes.
ARBEITEN UND SKAT SPIELEN
Vier Jahre leitete ich ein
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