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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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arbeiten. Was mich bei ihm anzog, war das Bemühen, religiöse und politische Fragen zusammenzudenken, gegenüber dem DDR-System kritisch, aber nicht generell feindlich gesonnen zu sein. Es ging uns um das beharrliche Gespräch mit dem Staat, ohne sich dabei auf eine Art ein- und anzupassen, wie sie die Ost-CDU praktizierte.
    Ich wollte mich bei Martin Ziegler während einer soziologischen Fachtagung nach einer Stelle erkundigen. Zu den glücklichen Fügungen meines Lebens zählt, dass an jenem Tag er mich fragte, ob ich nicht in Merseburg ein (von der Synode noch zu bestätigendes) Jugend- und Studentenpfarramt und zwei kleine Gemeinden, nämlich Meuschau und Trebnitz, übernehmen wolle. Ziegler wollte, dass ich in der Kirchenkreisarbeit eingebunden blieb. Ich sollte nicht in Gefahr geraten, in einem überregionalen Amt über allem zu schweben. Freudig willigte ich ein, selbstverständlich hatte diese Freude ihren Preis – bald schon spürte ich am eigenen Leib, wie quälendund frustrierend es sein kann, Pfarrer in einem so säkularisierten Kirchenkreis zu sein. Mit besonderem Grausen erinnere ich mich an die Qual mit den beiden Straßensammlungen jährlich und an Gottesdienste mit zwei bis fünf Besuchern. Studenten unterstützten mich gelegentlich mit Orgeldiensten. Dann war es wenigstens nicht so trist. Manche Bauern waren nur noch in der Kirche, weil wir »gegen den Staat« waren. Sie saßen teilnahmslos in der Bank, das in der Predigt ausgelegte Bibelwort blieb ihnen fremd. Womöglich kamen sie sich couragiert vor, obwohl sie angepasst lebten, regelmäßig schon vormittags zu den Volkswahlen gingen, um nicht aufzufallen. Und selbstverständlich gingen die Kinder zur Jugendweihe.
    Im Sommer 1971 zogen wir von der Chemiestadt Halle in die ökologische Hölle Merseburg, zwischen den beiden Giganten »Leuna-Werke Walter Ulbricht« und den »Buna-Werken« in Schkopau gelegen. Ich wohnte mit meiner Familie in einem Pfarrhaus am Rande der Stadt. Nicht weit entfernt befand sich zu allem Übel ein hochmoderner sowjetischer Militärflugplatz. Beim Landeanflug zogen die MIG-Jäger mit ohrenbetäubendem Lärm dicht über die Häuser hinweg. Meine Frau fand keine Ausbildungsstelle. Der Kreisarzt behauptete, es gebe in Merseburg keine neuen Planstellen für Allgemeinmediziner. Als eine ausgeschrieben wurde, hieß es, dafür könnten sich nur Ärzte bewerben, die aus der Volksarmee wieder ins zivile Leben zurückkehren wollten. Nach vielen Mühen konnte meine Frau schließlich ihre Ausbildung an einem Bezirkskrankenhaus in Halle-Süd fortsetzen, später wurde sie vom Chef der Poliklinik in Leuna eingestellt unter der Bedingung, keine Werbung für die Kirche zu betreiben. Der international anerkannte Arbeitsmediziner Professor Dr. Bittersol sagte ihr in einem vertraulichen Gespräch,warum ihr die Stelle in Merseburg versagt worden war: »Das hängt mit den Aktivitäten Ihres Mannes 1968 zusammen.« Warnend hatte er noch geraten, vorsichtig zu sein: Der Staat sei »überall präsent«. Auch solche menschliche und riskante Offenheit gehört zur Wahrheit über die DDR.
    Unsere Kinder erkrankten sehr, sehr oft an den Atemwegen. Bei seinem Besuch in der Studentengemeinde 1973 fragte mich Reiner Kunze auf dem Weg zu unserer Wohnung, warum ich das meinen kleinen Kindern zumutete. Die Frage saß! Ich fühlte mich beschämt und antwortete ihm ehrlich, dass ich für die Menschen, die hier leben, da sein wolle als ein Mit-Fühlender, ein Mit-Lebender. Schon während ich diese Worte aussprach, fand ich sie viel zu pathetisch. Kunze hatte Recht: Die Existenz in dieser Gegend war hart, im Grunde unzumutbar. Was mich jedoch nicht zur Flucht veranlassen konnte, sondern höchstens traurig stimmte, und die Trauer ging über in ein neuerliches Kräftesammeln, zum Beispiel für den Einsatz gegen die gravierende Luft- und Wasserverschmutzung. Außerdem bedrückte mich der zunehmende Verfall jenes Altstadtteils, den der Krieg verschont hatte. Ein großer Teil der Altstadt wurde buchstäblich vor meinen Augen abgerissen, und über dem Ganzen stand der Rote Stern.
    Alles in allem: Diese sieben Jahre in Merseburg von 1971 bis 1978 gehören für mich zu den schönsten und schwierigsten, den menschlich berührenden und – ex negativo! – erfahrungsgesättigten Jahren meines Lebens. Eine christliche Gemeinde in bedrängter Zeit. Bis zu 50 Studentinnen und Studenten kamen Woche für Woche in die Evangelische Studentengemeinde, fuhren zu den

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