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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Maltherapeut im Förderungszentrum in Herrnhut für geistig Behinderte.
    Immer wieder qualifizierte er sich selbst, wurde ein ungewöhnlicher – an Emil Nolde geschulter – Landschaftsmaler, dann Kunstfotograf. Die Bilder konnten in vielen Ausstellungen – auch in der Wittenberger Akademie – bestaunt werden. Er hat einfach einen ungewöhnlichen Blick.
    Seine Frau Anne war und blieb eine engagierte Pastorin.
    Die beiden nun schon 37 Jahre zu Freunden zu haben, zähle ich zum Glück meines Lebens. Er schenkte mir 1988 eines seiner kleinen Aquarelle und stellte dazu diese Ermutigungssätze: »Wenn der Himmel einen Menschen mit einer großen Aufgabe betrauen will, so wird er bestimmt seinen Geist Bitternisse erleiden lassen, seinen Sehnen und Knochen aufreibende Arbeit aufbürden, seinen Leib mit Hunger und Armut plagen, und Widerwärtigkeiten werden ihm zustoßen in allem, was er unternimmt. So spornt der Himmel seinen Geist an, festigt seinen Charakter, und seine Fähigkeiten wachsen wohl über das hinaus, was er ursprünglich zu leisten vermocht hätte.«
WENN EINER AUS DER REIHE TANZT
    Im Juli 1978 besucht eine ungarische Touristengruppe den Dom in Merseburg und wird von einer staatlichen Führerin durch den Dom geführt (der Dom gehört dem Staat). Eine Frau fragt nach dem Sinn einer am Eingang hängenden Karikatur.Die Führerin ist verwirrt; sie weiß das Bild nicht zu deuten. Sie ruft die Küsterin herbei, die gerade saubermacht. Und diese sagt einfach: »Viele gehen in diese Richtung, und einer geht in die andere.« Als sie ihre Führung beendet hat, geht sie noch einmal zur Küsterin und sagt ihr, die Karikatur würde doch noch mehr bedeuten. Sie meldet das beim Rat des Kreises. (Jeder staatliche Touristenführer musste bis 1989 genaueste schriftliche Berichte über ausländische Gruppen in doppelter Ausführung abliefern, alle Fragen, die sie gestellt hatten, alle besonderen Vorkommnisse erwähnen.) Am nächsten Tag kommt der Kirchenbeauftragte des Rates des Kreises zum Pfarrer und sagt ihm, dass er den Dom sehen möchte. Der Pfarrer geht mit ihm in die Kirche. Als sie in die Eingangshalle kommen, bittet der Kirchenbeauftragte den Pfarrer, die Karikatur einmal zur Information in den Rat des Kreises mitnehmen zu dürfen. Der Pfarrer verweigert das nicht. Die »Führung« wird fortgesetzt. Die zufällig vorüberkommende Küsterin sieht, dass der Beauftragte eine Papierrolle in der Hand hat, und bemerkt, dass die Karikatur entfernt worden ist. Sie geht beherzt auf ihn zu. Was er dort in der Hand habe? Er sagt darauf wieder seinen Spruch – wie ein Ertappter. Ihr Mann ruft mich an, ich fahre sofort mit dem Fahrrad zum Dom und beanspruche mein Eigentum. Ich sage ihm, er könne ein Beschlagnahmeprotokoll ausfüllen, wenn er das Blatt mitnehmen müsse, ansonsten müsse ich dies als Diebstahl werten. Ich würde ihn anzeigen, falls … Er beteuert nochmals, dass er es nur bis zum nächsten Tag in den Rat des Kreises mitnehmen wolle – »zur Information«. Ich bestehe auf Rückgabe, und er gibt es zurück. Dann kommt es zu einem Grundsatzgespräch darüber, was die Kirche in der Kirche aushängen darf …
    Als ich die Karikatur vier Jahre später in den Schaukasten in Wittenberg hänge, kommt der Kirchenbeauftragte nachzwei Stunden und fordert mich auf, sie sofort herauszunehmen, weil dies eine Aufforderung zur Wehrdienstverweigerung und eine Verunglimpfung der Verteidigung des Friedens sei. Wenn ich das nicht täte, sei er für die weiteren Schritte nicht verantwortlich. So konnte eine einzige Zeile von Kunze oder eine einzige Karikatur das System erschüttern.
    Wiederbegegnung mit der Karikatur »Wenn einer aus der Reihe tanzt« in der Ausstellung »20 Jahre Wendezeiten«, 2009
MEIN ABSCHIED VON DER STUDENTENGEMEINDE IN MERSEBURG 1978
    Ich spürte immer Verantwortung für jüngere Menschen, deren Lebensweg durch meine Aktivitäten unverhältnismäßige Brüche oder Einschränkungen erleiden konnte. Ich wollte, dass sie zu den Veranstaltungen der Jugend- oder Studentengemeinde kommen konnten, ohne kriminalisiert zu werden. Bei meinem Abschied von der Merseburger Studentengemeinde im Mai 1978 habe ich dies so ausgedrückt:
    »Jedem von euch danke ich tiefmenschliche Erfahrung und Freundschaft. Wir haben mehr empfangen, als wir danken können. Und es hat von Anfang an und bis heute Störversuche von außen gegeben: schmutzige, nichtswürdige Praktiken eines selbstunsicheren Apparats, der versucht hat, gerade

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