Klar sehen und doch hoffen
Menschen zu brechen oder un gerade hierherzuschicken. Wenn die einen sagen ›Denken ist heute zu gefährlich‹, so sagen wir ›Nichtdenken ist gefährlicher‹. Wenn wir das Denken den Leuten mit den eckigen Gehirnwindungen, das Sehen den Einäugigen, das Hören den Wanzen überlassen, haben wir keine Zukunft. Da ist ein Satz des Jesus von Nazareth geradezu befreiend: ›Wer Ohren hat zu hören, der höre! Habt keine Furcht.‹«
Am Abend dieses Abschiedsfestes sang Bettina Wegener auch das Lied von der Trauer über die Weggegangenen. Bald hielt sie selbst es nicht mehr aus und ging.
VERSUCHE, IN DER WAHRHEIT ZU LEBEN
EINE OPPOSITIONELLE GRUPPE
Wenn ich bei öffentlichen Veranstaltungen vorgestellt werde, so heißt es immer wieder: »Um ihn bildete sich seit Anfang der 80er-Jahre eine oppositionelle Gruppe.« Das »Oppositionelle« also macht unsere Gruppe nach 1990 erwähnenswert. Wir waren aber ein Gesprächskreis junger Erwachsener, der sich als ein »Sammelplatz der Beunruhigten« im Geiste Jesu Christi empfand. Eine Gruppe von 20 bis 30 Leuten mit einem engeren oder loseren Verhältnis zu Glauben und Kirche, regelmäßig zusammenkommend, um über relevante Lebensfragen miteinander zu reden. Von 1979 bis 1989, genau zehn Jahre. Es gehörte Mut dazu, in diesen Kreis zu kommen und sich von dort aus gesellschaftskritisch einzumischen.
Wir beschäftigten uns mit Bibeltexten und feierten Gottesdienste, die wir gemeinsam vorbereiteten, Geburtstage, Fasching und 1983 zum ersten Mal im Lutherhof Luthers Hochzeit. Am 5. Juni, dem »Tag der Umwelt«, nahmen wir Urlaub und fuhren mit den Rädern in die Umgebung, um die Aktion »Mobil ohne Auto« zu unterstützen. An die Synode richteten wir Eingaben, insbesondere Friedens-, Erziehungs-, Umweltund Demokratiefragen betreffend. An Erich Honecker schrieben wir Eingaben zur Abrüstung und Bildungsreform. In einem längeren Schreiben an den SED-Parteitag sprachen wir 1986 lokale und DDR-weite Probleme vom Städteverfall bis zur verpesteten Luft an. Wir empfingen eine Delegation des Repräsentantenhauses der USA, die Mitarbeiter des Hauses der Sowjetischen Kultur und Wissenschaften in Berlin. Einnächtliches intensives Gespräch mit etwa zehn sowjetischen »Inspektions- und Konversionsoffizieren« kam spontan zustande, eine Adventsfeier mit unter uns lebenden Sowjetbürgern wurde von Stasi und KGB gemeinsam unterbunden.
Bei uns lasen – ohne die erforderliche Genehmigung einzuholen – u. a. Ingeborg Drewitz, Stefan Heym, Helga Schütz, Volker Braun, Lutz Rathenow, Monika Helmecke, Jürgen Rennert und Uwe Grüning. Wir wirkten mit in der überregionalen Friedensgruppe »Frieden 83«, die sich zweimal jährlich traf, und pflegten intensive Kontakte zu Friedensgruppen in Westberlin, in Brandenburg, in Nürnberg sowie den Niederlanden. Wir beschäftigten uns mit der Kommunistin Rosa Luxemburg, dem Philosophen Immanuel Kant und dem Theologen Friedrich Schleiermacher. Unsere Gruppe verfasste die »20 Wittenberger Thesen« für den Kirchentag 1988 in Halle. Am 1. Oktober 1989 richteten wir einen Brief an Michail Gorbatschow, um ihn in der DDR zu begrüßen (weitergereicht von einer Westjournalistin).
Wir haben 1986 und 1989 überlegt, wie wir bei den »Wahlen« durch Wortmeldungen bei der Vorstellung der Kandidaten der Nationalen Front, durch Beobachtung in Wahllokalen und bei der Auszählung wirksam werden könnten.
Die Stasi hatte mich als »geistigen Lenker und Urheber von ›Frieden 83‹« ausgemacht und setzte zwei besonders eifrige IMs auf unsere Gruppe an. Einer berichtete 1986, »Johannes«, so mein OV-Name, identifiziere sich eindeutig mit den Zielen und Vorgehensweisen der Reagan-Administration. »Er … bekennt sich offen zum Antisowjetismus und Antikommunismus …« Man hielt mich gar für einen CIA-Agenten.
Wegen »planmäßig staatsfeindlicher Hetze gemäß § 106 (1), Ziff. 2 und 3« wurde 1977 ein »Operativer Vorgang« (OV) eröffnet. »Aufgrund der kirchenpolitischen Situation wurde die OV-Person bisher nicht strafrechtlich zur Verantwortunggezogen. … Aufbauend auf der politisch-operativen und strafrechtlichen Bewertung des aktuellen Sachstandes des OV erfolgt die politisch operative Bearbeitung derzeit gemäß §§ 97, 98, 106 StGB.« Alle operativen Maßnahmen sollten in enger Zusammenarbeit mit der Abteilung XX und Abteilung II der Bezirksverwaltung Halle durchgeführt werden.
Ich wusste damals, dass ich gemäß dieser Artikel des StGB zu zwölf
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