Klar sehen und doch hoffen
Die angedrohten Urteile wurden umgewandelt in befristete Ausreisemöglichkeiten.
Also statt Knast Westen – oder der Westen als Strafe?
In Wittenberg organisierte ich eine Gemeindeversammlung mit erstaunlich großer Resonanz. Wir waren geradezu enttäuscht, dass die Inhaftierten sich in den Westen entlassen ließen, wo wir doch die Machtfrage stellen wollten – aus dem Perestroika-Geist Gorbatschows. Aber konnten wir den Menschen, die in den Fängen der Stasi in Untersuchungshaft steckten, irgendeinen Vorwurf machen – zumal ich wusste, wie die Stasi die Leute kaputtspielen konnte?!
1988 sollte der Sack offenbar noch einmal zugeknotet werden. Die SED-Führung propagierte den »Sozialismus in den Farben der DDR«. Was bloße Stagnation war, das pries sie als Stabilität. Die Arroganz gegenüber der Sowjetunion war unverhohlen. Gegenüber der Bundesrepublik zeigte die DDR erpresserische Stärke. Die Lösung der Umweltprobleme an der Elbe und Werra machte sie abhängig von der anachronistischen Frage, ob die Staatsgrenze in der Elbmitte oder am Elbufer verlaufe. Wenn die Bundesrepublik den Forderungen der DDR hier nicht nachkäme, würde es keine Verhandlungen über Umweltfragen geben, sagte Hans Reichelt, als Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft einer der Hauptverantwortlichen für die Umweltschäden, an denen künftige Generationen noch schwer tragen werden. Die kirchliche Presse wurde wieder in die Zange genommen und massiv behindert. Werner Jarowinsky, eines der starrsinnigsten Politbüromitglieder, hielt den einbestellten Kirchenvertretern die seit einem Jahrzehnt schärfste Standpauke. Oberkirchenrat Martin Ziegler besaß den ungewöhnlichen Freimut, sein Stenogramm davon kommentarlos auf Wachsmatrizen in die Landeskirchen zu schicken, so dass wir kirchlichen Mitarbeiter genau wussten, woran wir waren mit der unverfrorenen Macht. Landauf, landab spürten wir, dass die Provinzvasallen der SED nur nachplapperten, was ihnen die Zentrale vorgegeben hatte. Sogar die gerade beginnende Zusammenarbeit von kirchlichen Aktionsgruppen (INKOTA) und staatlichen Initiativen für die Dritte Welt wurde jäh unterbrochen, junge Leute, die sich jahrelang auf Aufbauhilfe in Nicaragua vorbereitet hatten, wurden noch am Flughafen zurückgeschickt. Keine Zusammenarbeit zwischen Kirche und FDJ!
Aber wie stand es um die Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche? Überall, wo die Kirche aus den geschlossenen Räumen heraustrat und größere Öffentlichkeit bekommenkonnte, war »Gefahr im Verzuge«. Bei fast jedem Konflikt wiesen die Vertreter des Staates darauf hin, dass »die Grundlagen des Gesprächs vom 6. 3. 78« gefährdet würden, dies sei »in bestimmten kirchlichen Kreisen« offensichtlich gewollt. So gebärdete sich der Drohende stets als der Schützende; der »Wohlmeinende« führte »Übelmeinende« aus seinem eigenen Apparat ins Feld. So sollte Macht stabilisiert werden. So wurden alle Aktivitäten vor- und nachzensiert. Bisweilen wurden kirchliche Amtsträger auch zu Übermittlern staatlicher Drohungen, etwa bei Kirchentagen, Synoden, Treffen kritischer Basisgruppen.
Meist aber haben wir uns partnerschaftlich beraten wie in folgendem Fall. Propst Dr. Walter Münker aus Halle wurde am 14. März 1978 in den Rat des Kreises Merseburg zitiert, um sich Beschwerden zweier Studenten beim Prorektor der Hochschule »Carl Schorlemmer« über meine Arbeit als Studentenpfarrer abzuholen. Ich verhindere durch ständige provokatorische und staatsfeindliche Äußerungen, dass junge Menschen »konstruktiv als Christen in unserer sozialistischen Gesellschaft« leben, würde mit Äußerungen »über gesellschaftliche Ordnung und Freiheit des Einzelnen bis hart an die Grenze des noch Verantwortbaren« gehen usw. Danach kam der Propst sofort zu mir. Wir schlugen dem Rat des Kreises, Abteilung Inneres, vor, gemeinsam mit dem Prorektor und den beiden (anonym gebliebenen) Studenten ein Gespräch zu führen. Eine Antwort blieb aus. Eine Platzpatrone. So wurden selbst »Staatsorgane« zu »Blaue-Briefe-Trägern« der Stasi.
Das Staatssekretariat für Kirchenfragen verstand sich als Prellbock zwischen Staatssicherheit und Kirche. Sowohl auf unterer als auch auf oberer Ebene mahnten die dortigen Mitarbeiter: »Wenn Sie so weitermachen, können wir auch nichts mehr tun. Wir verstehen ja, was Sie wollen, aber ob andere das auch so verstehen können?!« »Andere«, die Stasi undHardliner wie Jarowinsky, warteten nur darauf, der Kirche
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