Klar sehen und doch hoffen
Jahren Zuchthaus verurteilt werden könnte. Man hielt das jedoch nicht für opportun, meinte, der Wirbel würde größer, wenn man mich einsperrte. Daher orientierte man auf »Zersetzung, Disziplinierung und Zurückdrängung«. Um die Gruppe zu destabilisieren, wurden kollegiale Meinungsverschiedenheiten ausgenutzt und Rivalitäten forciert. Unser Kreis beschäftigte sich z. B. seit 1986 mit der friedlichen Nutzung sowie den langfristigen Risiken der Kernenergie. Wir haben Experten eingeladen und prononciert Stellung genommen, während das kirchliche Forschungsheim in Wittenberg mit dessen Leiter Dr. Gensichen sehr viel zurückhaltender agierte und an einem guten Verhältnis zu den staatlichen Organen interessiert blieb. Ich hielt die öffentlichen Einlassungen des Forschungsheims in der Tat für zu lasch, aber die Stasi schürte die Differenzen mittels ihrer Spitzel, wie aus den Akten hervorgeht.
Die moderne Friedensforschung verhalf uns zu Erkenntnissen über strukturelle und individuelle Gewalt, psychologische wie ökonomische Ursachen für die Eskalation von Konflikten und über Strategien zur Behebung von Konflikten. Unsere Kirchenleitung in Magdeburg hatte mehrere Gruppen um Stellungnahme zum KAIROS-Papier gebeten, in dem die Christen der Vereinigten Südafrikanischen Kirche Gewalt als ein Gegenmittel gegen die unüberwindbar scheinende, rassistische Gewalt des Apartheidregimes befürworteten. Der mehrseitige Text, den wir sowohl nach Südafrika als auch anunsere Kirchenleitung schickten, hat keinen der Adressaten erreicht. Wir gaben in unserem Schreiben vom 8. Juli 1986 zu bedenken, dass »jede Gewalt, auch die ›gerechte‹«, in der Gefahr stehe, »nicht mehr von sich selbst lassen zu können und zum Wert für sich zu werden. Wenn man seine eigene Sache als eine gerechte empfindet, so sehen auch wir die Gefahr, dass Gewalt auf Dauer gerechtfertigt wird: eben als Erhaltung des ›Guten‹ und ›Gerechten‹.« Da das Töten von Kollaborateuren u. E. nicht zur gerechten Gewalt gehörte, appellierten wir an die südafrikanischen Christen, ihre Aktionen zu begrenzen. »Gerade weil Ihr dieses Charisma habt, bitten wir Euch, bei Eurem gerechten Kampf gegen die herrschende Unterdrückung darauf bedacht zu bleiben , dass Unterdrückung in jedem Fall falsch ist und dies auch dann gilt, wenn das Apartheidsystem abgelöst sein wird.« 21
Wir haben 1990 gefeiert, was den Südafrikanern unter Nelson Mandela und Bischof Tutu gelang. Wittenberg war ab Sommer 1989 eine der Städte der friedlichen Oktoberrevolution. Die Mitglieder unserer Gruppe standen bei den Aktionen in der vordersten Reihe. Dabei waren gruppendynamische Erfahrungen und Gesprächsleitungsübungen für den Kirchentag in Halle 1988 hilfreich. In die Debatten, wie mit dem Erbe der diktatorischen Vergangenheit in der DDR und im ganzen Ostblock umgegangen werden sollte, haben wir uns selbstverständlich eingemischt. Uns schwebte so etwas wie die Kommissionen für »Wahrheit und Versöhnung« in Südafrika vor. Aber dazu hätte es wohl einer Autorität bedurft, wie Nelson Mandela sie besaß.
Die Intensität unseres Gesprächskreises ließ sich nicht auf Dauer halten. Seit dem Herbst 1990 sind wir nicht mehr regelmäßig zusammengekommen. Aber das Miteinander hat uns so geprägt, dass es noch zwanzig Jahre später spürbar ist. Fast alle aus unserer Gruppe haben andere berufliche Aufgabenübernommen, ein haupt- oder nebenamtliches politisches Amt oder ein Ehrenamt. All unser Tun war eingebunden in unsere evangelische Kirche. Ich habe manches weiterführen können in meiner Arbeit in der Evangelischen Akademie in Wittenberg (1996 – 2007).
DAS RECHT ZU REDEN UND DIE DROHUNGEN DER MACHT
Im Januar 1988 lag ich wegen Krebsverdacht im Universitätskrankenhaus in Halle und verfolgte die beängstigenden Nachrichten von der Verhaftungswelle während und nach der Luxemburg-Demonstration in Berlin in einem Sechsmannzimmer mit Schwerkranken. Etwa 100 Ausreisewillige wurden schnell rausgelassen aus der »Republik der Arbeiter und Bauern«, Oppositionelle, die sich für die Festgenommenen eingesetzt und Informationen über die Aktionen verbreitet hatten, mit hohen Haftstrafen bedroht wegen »Zusammenrottung« bzw. »Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit«. Ein Irrsinn! Was sich hinter den Kulissen abgespielt hat, konnte bis heute nicht in allen Einzelheiten aufgeklärt werden. Damals fanden an vielen Orten sofort Mahnwachen und Gebete statt.
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