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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Geschehen isoliert steht, sondern hier, mittenin der Stadt im Wege steht. Die Gliedmaßen der Figur streben auseinander. Der rote Streif an der Generalsuniform am linken Bein geht über in die Blutspur im Sockel, in die Erde. Rechts der hochgereckte Arm, wie ein Stuka in den Himmel gerissen, und links die dem Arm aufgepfropfte Faust. So wird bedrückend klar, dass in diesem Jahrhundert beides geschehen ist. Beide Ungeheuer haben in einem Lebensalter Platz haben müssen, manchmal sogar in einem Menschen. Erst die drohend in den Himmel gereckte ›römische‹ Hand und dann die drohende Arbeiterfaust.«
    Als der Reporter fragte: »Beides Ungeheuer?«, antwortete ich: »Beides Ungeheuer. Und zwar in derselben Zeit und in denselben Menschen: zwei ideologisch divergierende Ungeheuer. Das ist kaum auszuhalten. Das nennt sich ›Jahrhundertschritt‹, und der, der das sieht, sagt sich: So kommt man natürlich keinen Schritt weiter. In dieser Skulptur steckt eine ungeheure Anstrengung, die auch etwas völlig Absurdes hat. Warum kommt die Gestalt keinen Schritt weiter? … Vielleicht weil das einzig Menschliche, Natürliche, Verletzbare, das noch sichtbar ist, der nackte gestreckte Fuß ist, der sich den beiden Gewalten entgegenstemmt. Und vielleicht ist dieser Fuß ein Ersatz für das eingemauerte Rückgrat. Wenigstens etwas, was sich diesem Schritt, dieser Richtung entgegenstemmt. Der Körper ist völlig verunstaltet, der Kopf wächst hinein in den umpanzerten Körper, versinkt darin. Ich deute das so: Das Nachdenken mit dem Kopf und das Vorausdenken, das, was noch Empfinden und das Herz sein mag, wachsen zu einem Wust zusammen. Äußeres und inneres Chaos. Ich glaube, dass gerade die nazistische Ideologie so ein Wust war, voll dumpfem Gefühl und kalter Rationalität, die unser Volk massenhaft in einen Rausch sog und Gefühle zynisch missbrauchte. Und so ähnlich ist das auch im bolschewistisch oder maoistisch dominierten Kommunismus gewesen. Vielleichtdeshalb noch schlimmer, weil hier ein großes Ideal kaputtgemacht wurde. Der Nazismus war an sich böse, der Kommunismus hat ein großes Menschheitsideal durch seine Praxis auf dem Gewissen. Und insofern finde ich das, was in den Lagern Stalins angerichtet worden ist, eigentlich schlimmer noch, aber auch das, was alltäglich im rotmilitaristischen, das Individuum auslöschenden System zugunsten eines großen Kollektivs unter Führung einer Allmachtspartei geschah.«
    Im Begleitfilm sind Ausrufe der Demonstranten zu hören: Wir sind das Volk. Wir sind das Volk. Wir sind das Volk. Wir sind das Volk. Wir sind das Volk. Wir sind das Volk. Der Reporter fragte mich, wie die Skulptur vom DDR-Regime gedeutet wurde. Ich antwortete: »Man hat das einfach für sich vereinnahmt, Mattheuer konnte man nicht mehr verbieten. Der hat sich auch nichts verbieten lassen. Und da hat man es für sich interpretiert und gesagt, es ist eben ganz schrecklich, was die Nazis hier angerichtet haben, und die Faust wurde als die Hoffnungsfaust und historische Alternative dargestellt. Man machte sich überhaupt nicht klar, dass beides miteinander eng verbunden ist, was da im 20. Jahrhundert als ›Jahrhundertschritt‹ ironisch benannt ist. Und zwar auch in unserem Volk, in einer Generation, in einem Menschen. Dass das Nationalistische eine Gefahr bleibt und möglicherweise die Faust nur aufgepfropft ist, die die Befreiung der Menschheit erkämpfen will. Kommunisten ging es genauso wie den Nationalsozialisten schließlich um Macht, um nichts als die Macht. Ich sehe in dieser Skulptur einen verborgenen Imperativ. Sie hat mich immer sehr, sehr angesprochen. Ich lese daraus den Imperativ, dass aus dieser Faust eine geöffnete Hand wird und aus dem hochgereckten Arm der einladende, der ausgestreckte Arm, eine Geste der Einladung, nicht der Drohung.«
    2012 frage ich mich erneut: Sind die beiden Systeme wirklich vergleichbar? Beides waren furchtbare, verbrecherische,menschenverachtende Totalitarismen mit einem quasigöttlichen Anspruch der Diktatoren. Beide nutzen für ihre Verbrechen eine Mischung aus Angst und Begeisterung der Völker. Dann aber hört die Gleichsetzung auf. Denn der eine, Hitler, exekutierte eine jedem Humanismus und jeder Errungenschaft der Zivilisation widersprechende Ideologie, und der andere benutzte eine Menschheitsidee zur Rechtfertigung von Gewalt, zur Sicherung seiner Macht, wobei er die Ideale zertrampelte. Insofern ist Stalin und mit ihm das ganze bolschewistische System, das Lenin

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