Klassentreffen
Stunde lang schaue ich aus dem Fenster und sehe Felder und Kühe, Bahnsteige und Übergänge vorbeiziehen. Am Bahnhof Sloterdijk steige ich aus und nehme die Straßenbahn Richtung Bos en Lommer . Dann stehe ich in meiner Straße, schließe die Haustür auf und gehe die Treppe hinauf zu meiner Wohnung.
Dort herrscht ein unbeschreibliches Chaos. Sprachlos sehe ich mich um: Die Schubladen sind ausgeleert, alles ist aus den Schränken gerissen und liegt auf dem Boden verstreut. In der Küche ist der Inhalt sämtlicher Vorratsgläser in die Spüle gekippt worden, dazwischen liegt Besteck. Das Regalbrett mit den Blechdosen, in denen ich Rabattmarken und Krimskrams aufhebe, ist leer gefegt. Die ganze Küche stinkt nach Bier, das auf dem Boden eine große Lache bildet. Überall liegen Glas- und Porzellanscherben herum.
Das Aufräumen wird mich Stunden kosten, aber schlimm finde ich es eigentlich nicht, denn ich bin so unruhig, dass ich ohnehin nicht still sitzen könnte. Mit dem Radio in voller Lautstärke mache ich mich an die Arbeit. Bei dem Durcheinander kann ich gleich ausmisten. Ich nehme eine Rolle Müllsäcke aus dem Schrank, werfe die kaputten Sachen
weg und außerdem alles, was ich entbehren kann. Bald stehen drei pralle Säcke im Flur.
Bei jeder Nachrichtensendung spitze ich die Ohren, aber offenbar ist noch keine Meldung über das Auffinden von Isabels Leiche rausgegangen. Dafür ruft Fabienne an; als ich die Nummer des Reviers erkenne, fängt mein Herz an zu hämmern.
»Hier Fabienne Luiting. Wir haben Olaf van Oirschot festgenommen, er wird gerade verhört«, sagt sie. »Ich dachte, das würde Sie interessieren.«
Ich atme tief durch.
»Ja«, sage ich. »Danke, vielen Dank.«
Als abends das Telefon erneut klingelt, stürze ich sofort hin.
»Sabine, kommst du heute noch?«, fragt Robin ungeduldig.
Mist, vergessen!
»Robin, entschuldige! Das hab ich total verschwitzt. Mir ist was dazwischen gekommen.«
»Na prima.«
»Tut mir echt Leid, du! Isabel ist gefunden worden.«
Atemlose Stille. Sie dauert so lange, dass ich schließlich weiterrede.
»Die Polizei hat mich angerufen. Sie wollten mit mir sprechen.«
»Wo ist sie gefunden worden?« Robins Stimme klingt ein wenig heiser.
»In den Dunklen Dünen .«
»An der Stelle, an die du dich erinnert hast?«
»Ja.«
Wieder eine lange Stille.
»Und jetzt?«, fragt er.
»Olaf ist verhaftet worden.«
»Das ist nicht dein Ernst! Stimmt das wirklich? Aber das ist doch lachhaft!«
»So lachhaft ist das keineswegs. Er war an dem fraglichen Tag mit Isabel bei den Dunklen Dünen verabredet. Ob er hingegangen ist, weiß ich nicht, aber ich denke schon. Und ich glaube, dass sie damals mit ihm Schluss gemacht hat.«
»Das stimmt«, sagt Robin auf einmal alarmiert. »Als wir zur Prüfung in die Turnhalle gingen, hat er mir gesagt, dass er sich mit ihr treffen will. Es hörte sich so an, als wollte er hingehen.«
»Na also. Sie hat dort mit ihm Schluss gemacht, und er ist durchgedreht.«
»Und dann hat er sie im Wald umgebracht, ihr den Radschlüssel weggenommen, sie vergraben und an der Imbissbude ihr Fahrrad geholt.«
»Genau.«
»Das glaubst du doch selbst nicht! Warum sollte er sie umbringen? Bloß weil sie Schluss gemacht hat? Das ist doch ein schwaches Motiv.«
»Für dich vielleicht. Aber nicht für Typen, die es nicht ertragen können, abgewiesen zu werden.«
Wir schweigen beide eine Zeit lang.
»Tja nun, wir werden sowieso nicht rausfinden, was genau passiert ist«, sagt Robin schließlich. »Und warum sollten wir auch? Das ist Sache der Polizei. Aber ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass Olaf der Täter ist.«
»Warum nicht?«
»Ich kenne ihn. Ich bin seit vielen Jahren mit ihm befreundet.«
»Du warst vor vielen Jahren mit ihm befreundet, meinst du wohl. Und überhaupt: Wie gut kennt man jemanden? Bei fast allen Verbrechen ist der Täter ein Bekannter des Opfers.
Vor allem bei Sittlichkeitsdelikten. Der nette Nachbar, dem man das niemals zugetraut hätte, der Freund der Familie, der sich auf einmal nicht mehr beherrschen kann, und so weiter und so fort.«
»Hier geht’s doch nicht um ein Sittlichkeitsdelikt!«
»Das weiß man nicht.«
»Hör mal, Sabine, falls Olaf was mit Isabels Tod zu tun hat, und ich sage ausdrücklich falls , dann wird das verdammt schwer zu beweisen sein. Ich glaube nicht, dass die Polizei ihn lange festhalten kann.«
»Sie halten ihn so lange fest, bis er gesteht«, sage ich überzeugt, aber mein Herz fängt
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