Klassentreffen
Küchentisch, und ich starre auf die Holzplatte.
»Das ist nicht nur wegen Renée, oder? Das hat immer noch mit deiner Depression zu tun«, sagt Jeanine.
Ich nicke.
»Aber du warst doch in Therapie. Hat das nicht geholfen?«
»Eigentlich nicht. Die Psychologin meinte irgendwann, dass sie nicht weiß, wie sie mir weiterhelfen kann. Es ging mir zwar besser, aber sie meinte, wir würden nicht zum Kern des Problems vordringen. Das hat sie wörtlich gesagt.«
»Kennst du denn den Kern des Problems?«
Ich spiele abwesend mit dem Obst in der Schale. Es ist eine schöne Keramikschale, die ich mal in Spanien gekauft habe, für viel zu viel Geld. Ich lache und erzähle Jeanine davon.
»Sabine …«, sagt sie vorwurfsvoll.
Ich schaue weiter auf die Obstschale und versuche zu einem Schluss zu kommen. Dann blicke ich auf und frage vorsichtig: »Kennst du das Gefühl, dass da eine Erinnerung ist, an die du nicht herankommst?«
»Ja«, sagt Jeanine. »Wenn ich einen Namen vergessen habe, zum Beispiel. Dann liegt er mir auf der Zunge, und wenn ich ihn sagen will, ist er wieder weg.«
»Genau.« Ich nehme eine Banane und deute damit auf sie. »Genauso ist es.«
»Und worum geht’s?«, fragt Jeanine. »Oder weißt du das auch nicht?«
Ich schäle langsam die Banane. Da ist er wieder, dieser Gedankenblitz. Diese plötzlich auftauchende Erinnerung. Ich sitze regungslos da, starre den gerahmten Kunstdruck an der Wand an, und dann ist sie auch schon wieder weg.
Frustriert esse ich die Banane auf.
Jeanine hat nichts gemerkt. »Ich habe viel von früher vergessen«, sagt sie.
»Hab ich dir schon mal von Isabel erzählt?«, frage ich.
»Ja.«
»Ich hab das Gefühl, dass ich weiß, was mir ihr passiert ist«, sage ich.
Jeanine guckt mich an. »Aber sie ist doch nie gefunden worden, oder? Wie kannst du dann wissen, was mit ihr passiert ist?«
»Das ist es ja«, sage ich müde. »Daran versuche ich mich zu erinnern.«
In dieser Nacht schlafe ich wieder schlecht. Ich wache auf, den Kopf voller wirrer Träume. Träume von früher, vom Gymnasium, aber als ich wach bin, weiß ich nicht mehr, worum es genau ging. Nur Barts lachendes Gesicht, dicht an meinem, sehe ich noch vor mir, und seine tiefe Stimme hallt in mir nach.
Bart, meine erste große Liebe, der erste und einzige Junge, mit dem ich je im Bett war. Ich habe ihn seit dem Gymnasium nicht mehr gesehen, aber noch öfter an ihn gedacht. Daran, dass ich von ihm geträumt hätte, kann ich mich aber nicht erinnern. Warum verfolgt mich die Vergangenheit auf einmal so hartnäckig?
Am nächsten Tag sitze ich mit Kopfschmerzen im Büro. Ich nehme ein Aspirin und ertappe mich dabei, dass ich nach Olaf Ausschau halte. Wäre doch nett, wenn mein PC einen kleinen Defekt hätte … aber er fährt problemlos hoch.
»Ich hätte da einen Vorschlag!« Renée kommt ins Sekretariat gestürmt, zieht die Jacke aus und stellt demonstrativ ein großes rosa Sparschwein auf ihren Schreibtisch. »Ich habe mit Wouter darüber gesprochen: Er meint auch, dass
bei uns wegen Tippfehlern unnötig viel Papier verbraucht wird. Oft sind das Fehler, die sich vermeiden lassen, wenn man den Text am Bildschirm gründlich durchliest. So was passiert zwar jedem mal, aber in letzter Zeit ist der Altpapiercontainer doch recht voll.«
Sie weicht meinem Blick so auffällig aus, dass mir sofort klar ist, wer diese Krisensituation verursacht haben soll.
»Dazu hätte ich folgenden Vorschlag: Jede von uns steckt für jedes unnütz verbrauchte Blatt Papier zehn Cent in das Sparschwein hier. Von dem, was zusammenkommt, finanzieren wir unseren Freitagsumtrunk. Was haltet ihr davon?« Erwartungsvoll guckt sie in die Runde.
Ich gucke ungläubig zurück.
»Hmmm«, murmelt Zinzy.
Ich habe sie heute Morgen zum ersten Mal gesehen. Sie wirkt eigentlich recht nett.
»Gute Idee«, sagt Margot, die die wenigsten Briefe tippt. »Es wird wirklich viel Papier weggeworfen.«
»Überlegt euch die Sache«, sagt Renée energisch. »Ich finde die Idee wirklich gut.«
Ich nicht, aber ich habe keine Lust, mich mit ihr anzulegen. Zinzy sagt schließlich auch nichts.
Ich wende mich wieder meinem Bildschirm zu. Eine Mail von Olaf erscheint. Ich öffne sie und lese: Guten Morgen, Sabine. Offenbar ist mit deinem PC alles in Ordnung. Schade.
Ich muss grinsen. Sofort schicke ich eine Mail zurück: Er läuft aber wesentlich langsamer als sonst.
Es dauert nicht lange, und die Antwort ist da: Ich komme mal nachsehen.
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