Klassentreffen
mehr von jenem Tag weiß, warum sollte ich also nicht in Isabels Nähe gewesen sein, als sie angegriffen wurde?
Andererseits: Wenn jeder wirre Traum etwas zu bedeuten hätte, würde sich kein Mensch mehr zu schlafen trauen. Wäre der Mörder wirklich im Wald verschwunden, hätte man doch Isabels Leiche finden müssen. Na also! Der Traum stimmt hinten und vorne nicht!
Seufzend trinke ich den letzten Schluck Wein, knipse das Licht aus und gehe wieder ins Bett. Ich schlüpfe unter die Decke und versuche, nicht mehr an den Traum zu denken, aber das beunruhigende Gefühl, dass mein Unterbewusstsein mir etwas sagen will, bleibt.
Am nächsten Morgen bin ich sehr früh wach. Viel zu früh, aber sobald ich die Augen aufmache, weiß ich, dass es vorbei ist mit dem Schlafen. Also stehe ich auf, nehme eine warme Dusche, schlüpfe in meinen Jeansrock und einen weißen Pulli, dazu die weißen Stiefeletten. An die Spüle gelehnt, esse ich zwei Brote mit Erdbeeren, brühe Kaffee auf und gieße ihn in eine Thermosflasche. Bevor ich aus der Wohnung gehe, greife ich mir Jacke und Handtasche.
Es ist Himmelfahrt. Das passt gut, denn ich muss hier unbedingt weg. Ich muss nach Den Helder. Was ich dort will, weiß ich selbst nicht so recht, aber ich spüre den Sog der Vergangenheit. Wenn ich die Unruhe und diese wirren Träume loswerden will, muss ich die Wahrheit herausfinden.
Ich schließe mein Auto auf, werfe die Tasche auf den Beifahrersitz und schiebe die Thermosflasche in die Halterung unterm Armaturenbrett. Dann setze ich mich ans Steuer und fahre los. Unterwegs lasse ich meinen Gedanken freien Lauf. Etwas sagt mir, dass ich aus gutem Grund keine Erinnerungen mehr an jenen 8. Mai vor neun Jahren habe. Ich war nicht nur am Tatort, es ist sogar gut möglich, dass ich den Täter kenne. Aber warum habe ich das aus meinem Gedächtnis verbannt? Bin ich bedroht worden, und hat Todesangst meine Erinnerung blockiert, oder war der Täter ein Bekannter von mir? In meinem Traum letzte Nacht war das so, aber wie verlässlich sind Träume?
Es ist schwül. Mein Auto hat keine Klimaanlage, und schon auf der Höhe von Alkmaar habe ich Schweißflecken
unter den Achseln. Am Ortseingang von Den Helder ist es erst halb zehn und schon glühend heiß. Ich kurble das Fenster herunter und fahre langsam durchs Zentrum. Und jetzt? Wohin?
Plötzlich habe ich das Bedürfnis, meine alte Schule wiederzusehen und fahre geradeaus weiter. Eine lange, vertraute Straße führt zum Schulgebäude. Ich sehe es noch nicht vor mir, aber da ist schon der Park, in dem wir in den Pausen immer herumschlenderten und im Sommer im Gras lagen. Jedenfalls nach der Mittelstufe, als ich wieder ein paar Freunde hatte. Davor saß ich während der Freistunden mutterseelenallein im Aufenthaltsraum oder ging in die Stadtbibliothek.
Ich biege links ab, und ein hoher Backsteinbau taucht vor mir auf. Die Jahre sind wie weggezaubert.
Ich parke am Straßenrand und steige aus. Mein Blick gleitet an der abweisenden Backsteinmauer des Gymnasiums empor. Hier hat sich ein großer Teil meines Lebens abgespielt. Am Tag meines Abiturs schwor ich mir, nie mehr hierher zurückzukommen. Aber jetzt bin ich wieder da und habe Herzklopfen wie damals.
Ich überquere die Straße und betrete den Schulhof.
Das Mädchen ist hier. Ich spüre ihre Gegenwart, noch bevor ich sie sehe. Suchend schaue ich mich um. Da ist sie: Sie hockt auf dem Gepäckträger eines Rads, die schwere Schultasche neben den Füßen. Offenbar ist sie in ihr Aufgabenheft vertieft, allerdings nur zum Schein. Sie ist sich sehr genau der Clique ein Stück weiter bewusst, ebenso der Leere um sich herum. Würde das Mädchen rauchen, hätte sie sich bereits eine Zigarette angezündet, um das Gesicht zu wahren. Aber auch das hätte nicht viel gebracht. Das Mädchen hat etwas Scheues, Verlorenes an sich, sodass sie ohnehin keine Chance bei der Clique hätte.
Am liebsten würde ich zu ihr hingehen und den Arm um sie legen. Stattdessen schlendere ich über den Schulhof und bleibe wie zufällig in ihrer Nähe stehen.
Das Mädchen schaut auf, sagt aber nichts. Ihr Blick irrt über den Hof.
Soll ich sie ansprechen?
Zögernd sehe ich sie an. Ihre Augen treffen meine, sehen weg und dann wieder her. Ihr Gesichtsausdruck wird wachsam.
»Hallo«, sage ich.
»Hallo«, sagt das Mädchen argwöhnisch.
»Du kennst mich nicht«, sage ich. »Aber ich kenne dich. Ich möchte dich gern was fragen.«
Das Mädchen sieht mich nur an, den Blick
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