Klassentreffen
Vergangenheit hat das, was schon in Bewegung war, dermaßen beschleunigt, dass es nicht mehr aufzuhalten ist. Mir scheint das alles viel kürzer her als neun Jahre. Ist seit Isabels Verschwinden wirklich so viel Zeit vergangen?
Habe ich Bart tatsächlich so lange nicht mehr gesehen? Auf einmal fehlt er mir; ich weiß, es ist verrückt, aber er fehlt mir. Ich hatte schon immer eine nostalgische Ader, daher die vielen Tagebücher, und wenn ich mich dieser Stimmung jetzt hingebe, gibt es kein Halten mehr. Ich bin imstande und spüre Bart auf, um ihn zu fragen, ob wir nicht da weitermachen können, wo wir aufgehört haben …
Je länger ich Tagebuch lese, desto schlimmer wird es. Entschlossen klappe ich es zu, lege es in die Schachtel und schiebe sie unters Bett. So, das war’s. Zurück ins Heute.
Ich gehe früh schlafen, aber es wird eine unruhige Nacht. Isabel beherrscht nicht nur mein Denken, sie taucht auch in meinen Träumen auf. Ich erlebe den bewussten Tag aufs Neue, aber alles ist völlig absurd. Ich irre durch ein Labyrinth aus hohen Bäumen, deren dichte Laubkronen den blauen Himmel verdecken. Er muss aber blau sein, denn es ist warm, sogar im Schatten der Bäume. Ich höre Vögel zwitschern und in der Ferne das Meer rauschen. Ganz allein irre ich umher, ohne zu wissen, wonach ich suche.
Plötzlich sehe ich mich Isabel gegenüber. Sie steht auf einer Lichtung und lächelt mir zu. Keine Ahnung, warum sie lächelt, ich empfinde nur Angst. Und dann begreife ich, dass sie nicht mich meint. Sie sieht mich nicht einmal, irgendwie bin ich auf einmal unsichtbar geworden. Ich gucke zur Seite und sehe die Gestalt eines Mannes zwischen den Bäumen. Isabel spricht ihn an, und er antwortet mit einer tiefen, angenehmen Stimme, die ich gut kenne. Trotzdem ist auf einmal etwas anders. Etwas Bedrohliches liegt in der Luft, und die Vögel hören auf zu singen. Der Mann tritt zwischen den Bäumen hervor und geht auf Isabel zu. Ich weiß, was er vorhat, so als würde ich einen Film sehen, den ich bereits kenne. Jetzt steht er vor ihr. Er stößt sie um, setzt sich auf sie und hält sie mit seinem Gewicht am Boden. Dann packt er ihren Hals und drückt zu, immer fester.
Ich kann Isabels Gesicht nicht sehen, aber ich höre erstickte Laute und sehe sie verzweifelt an den kräftigen Händen um ihren Hals zerren. Ich weiß, dass ich dringend etwas tun muss, Alarm schlagen, dem Mann auf den Rücken springen – egal was.
Aber ich tue nichts. Ich stehe nur da, schaue zu und gehe dann mit kleinen Schritten rückwärts, in den Schutz der Bäume. Nein, Angst habe ich nicht. Ich kenne den Mann ja und kann mir nicht vorstellen, dass er mir etwas antut, trotzdem ist es besser, wenn er nicht weiß, dass ich mitbekommen habe, was hier geschieht.
Als er längst im Wald verschwunden ist, stehe ich noch immer da und starre den reglosen Körper auf der Lichtung an. Ich sehe das verzerrte tote Gesicht im Sand, die leblose Hülle, die ein paar Minuten zuvor noch Isabel war. Ich drehe mich um und renne in den Wald, mit schweren Schritten, so als hätte ich Leim an den Schuhsohlen. Wenn ich mich umblicke, sehe ich die Lichtung mit Isabels Leiche.
Und so schnell ich auch renne, ich komme einfach nicht vom Fleck.
Da wache ich auf. Ich öffne die Augen, um mich herum nichts als Stille und Dunkelheit. Ein Traum, es war nur ein Traum. Mein Schlafshirt ist durchgeschwitzt, und das Haar klebt mir an der Stirn. Ich werfe die Bettdecke von mir, spüre die nächtliche Kälte und komme langsam zu mir. Die rabenschwarze Finsternis wird dunkelgrau, und ich erkenne die Konturen von Bett, Kleiderschrank, dem Stuhl mit den Kleidern drauf und die gerahmten Fotos an der Wand.
Es war nur ein Traum. Beklemmend und beängstigend, aber eben nur ein Traum.
Ich taste nach der Nachttischlampe und knipse sie an. Im Lichtschein taucht meine vertraute Welt auf. Barfuß tapse ich zur Toilette und gehe dann in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Zugegeben, ich hatte von Anfang an ein Glas Wein im Sinn. Aber erst mal trinke ich Wasser, damit mein Mund nicht mehr so trocken ist. Danach einen Wein zur Beruhigung.
An die Spüle gelehnt, nippe ich von dem kühlen Frascati und denke über die Gestalt in meinem Traum nach. Ich wusste, wer Isabels Mörder ist, aber beim Aufwachen war es wieder weg. Was hat das zu bedeuten? Dass ich den Mord tatsächlich mit angesehen habe und mein Unterbewusstsein mir das klar machen will? Es ist eine Tatsache, dass ich praktisch nichts
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