Klassentreffen
Leitung ist es ebenfalls still.
Am liebsten würde ich ein paar unflätige Schimpfwörter in den Hörer schreien, aber ich beherrsche mich. Denn genau darauf sind manche aus. Ganz ruhig lege ich auf, und als das Telefon zum dritten Mal klingelt, ziehe ich den Stecker raus. Du kannst mich mal, Blödmann, wer immer du auch bist.
Im Schein der Nachttischlampe liege ich auf dem Rücken und grüble.
Wer war das? Was wollte dieser Verrückte von mir? Womöglich kenne ich ihn ja. Oder sie.
Mit einem ärgerlichen Seufzer knipse ich das Licht aus und lasse mich aufs Kissen sinken. Blödsinn! Schlaf jetzt, Sabine! Es war einfach nur ein Bekloppter …
Zufall.
Und dann sehe ich sie ein paar rauschende Sekunden lang. Sehe Isabels verzerrtes, blau angelaufenes Gesicht, ihre blicklosen Augen.
Ich blinzle, aber das Bild will nicht verschwinden. Ich springe aus dem Bett und mache alle Lichter an, aber Isabels Gesicht verfolgt mich weiter. Ihr Kopf hängt nach hinten, und die Augen starren zum Himmel. Das kurze dunkle Haar ist voller Sand.
Was ist das? Eine Erinnerung, eine Wahnvorstellung?
Ich sacke aufs Bett und schlage die Hände vors Gesicht. Isabel ist nie gefunden worden, ich kann sie also gar nicht tot
gesehen haben. Das muss meine Fantasie sein. Ein Produkt meiner Vorstellungskraft.
Mir zittern die Hände wie einem Alkoholiker, der einen Schnaps braucht. Ich kann sie beim besten Willen nicht ruhig halten, ebenso wenig kriege ich das Zähneklappern in den Griff.
Ich laufe, renne fast schon durch die Wohnung, aber mein Geist ist genauso schnell, rennt mit. Die Arme um mich geschlungen, gehe ich auf und ab. Meine Nägel graben sich in die Haut der Arme. Ich mache den Mund auf und will schreien, einen lang gezogenen befreienden Schrei aussto ßen, aber stattdessen stecke ich mir die Hand in den Mund und beiße sie blutig.
Ich stöpsle das Telefon wieder ein und wähle Robins Nummer. Es klingelt eine Ewigkeit, aber er geht nicht dran. Ich muss unbedingt mit jemandem reden. Meine Finger wählen Olafs Nummer. Nach ein paar Freizeichen kommt seine Stimme.
»Olaf van Oirschot«, murmelt er schlaftrunken.
»Ich hab sie gesehen«, flüstere ich.
»Wer ist dran? Sabine?«
»Ja. Ich hab sie gesehen, Olaf.«
»Wen hast du gesehen?«
Es bleibt so lange still, dass mir ganz komisch wird.
»Wie meinst du das: Du hast sie gesehen?«
»Ganz kurz nur. Sie lag auf dem Boden, tot, mit Sand in den Haaren.«
Olaf sagt nichts, und diesmal durchbreche ich selbst die Stille. »Ich weiß nicht, was es war, eine Erinnerung oder meine Fantasie. Ich hab nicht geschlafen, echt nicht. Es kam einfach so, aus dem Nichts. Wie kann so was sein? Ich kann das doch nicht wirklich gesehen haben, oder?« Meine Stimme klingt schrill und überschlägt sich.
»Ich komm zu dir.«
Olaf legt auf, und ich bleibe auf dem Sofa sitzen, zittrig, die Arme um mich geschlungen.
Zwanzig Minuten später klingelt es. Ich stehe auf, spähe durch einen Vorhangspalt und sehe Olafs blonden Schopf. Beruhigt gehe ich in den Flur, drücke den Öffner und höre gleich darauf Schritte auf der Treppe.
»Geht’s einigermaßen?« Olaf führt mich zum Sofa. Ich setze mich, und er geht neben mir in die Hocke. Besorgt mustert er mich, steht dann auf und holt ein Glas Wasser.
Warum glauben die Leute bloß, von einem Schluck Wasser ginge es einem besser? Keine Ahnung, aber ich will seine Fürsorge nicht abweisen. Also trinke ich einen Schluck und halte das Glas so fest, als wäre es eine Rettungsboje.
»Sie ist tot«, flüstere ich.
»Hast du das etwa gesehen?« Olaf nimmt mir das Glas aus den zitternden Händen.
»Ja, ganz plötzlich.«
»Und das hast du nicht geträumt?«
Ich zögere. »Nein, ich hab mich daran erinnert. Auf einmal war die Erinnerung da.«
»War jemand dabei?« Olaf packt mich an den Schultern und schüttelt mich leicht. »Hast du das auch gesehen? Sag schon! War da noch jemand?«
Ich sehe seine kräftigen Hände, deren Knöchel weiß hervortreten, und höre seine drängende Stimme.
»Ich … ich weiß nicht. Nein, ich hab nur sie gesehen.«
Er lässt mich los. Ich traue mich nicht, ihn anzusehen, nehme das Wasser und trinke noch einen Schluck. Meine Zähne klappern ans Glas.
Olaf mustert mich lange.
»Das Ganze beschäftigt dich in letzter Zeit sehr«, sagt er schließlich. »Du solltest es nicht so nah an dich heranlassen.«
»Ja, vielleicht hast du Recht.« Ich muss immer noch seine Hände anstarren.
»Fahr nicht mehr nach Den Helder«,
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