Klassentreffen
und schüttelt sich heftig, sodass wir beide zurückweichen.
Bart küsst mich auf beide Wangen. »Schön, dich gesehen zu haben, Sabine«, sagt er. »Ich hätte mich gern noch weiter mit dir unterhalten, aber … nun ja …« Ein bedauernder Blick, den ich erwidere.
»So ist das eben«, sage ich. »Die Arbeit geht vor.« Das ist zwar absolut nicht meine Devise, denn mir fallen jede Menge Dinge ein, die wichtiger sind als die Arbeit, aber das muss Bart selbst entscheiden.
»Sag mal …«, fängt er an, als wäre ihm plötzlich eine Idee gekommen.
»Ja?«, sage ich hoffnungsvoll.
»Hast du eigentlich vor, zum Klassentreffen zu kommen? Du weißt doch, dass die Gymnasien demnächst so ein Ehemaligentreffen veranstalten, oder?«, sagt Bart.
»Ich hab davon gelesen.« Ich merke, worauf er hinauswill. Das entspricht zwar nicht ganz meinen Vorstellungen, ist aber immerhin besser als nichts.
»Gehst du hin?«, fragt Bart, und seine Stimme verrät eine deutliche Anspannung.
»Na klar«, sage ich spontan. »Die Idee mit dem Treffen hat mich sofort begeistert.«
»Prima! Dann können wir ja dort weiterreden«, sagt Bart zufrieden. »Ich freu mich, dass ich dich wiedergesehen hab, Sabine. Du musst unbedingt zu dem Treffen kommen!«
»Aber sicher«, sage ich. »Auf jeden Fall.«
Er küsst mich nochmals auf die Wange und ich ihn ebenfalls. Lächelnd heben wir die Hand zum Abschied.
Ich wende mich als Erste zum Gehen, bevor er es tun kann, schaue aber noch mal über die Schulter und winke. Er winkt zurück, leint Rover an und dreht sich ebenfalls um. Ich riskiere keinen Kontrollblick, ob er sich auch noch mal umsieht, obwohl ich das für mein Leben gern wüsste. Wenn ich ihn wiedersehen will, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu diesem blöden Treffen zu gehen.
KAPITEL 34
So etwas wie Klassentreffen müssen sich beliebte, erfolgreiche Schüler ausgedacht haben, die früher auf dem Gymnasium die Stars waren und diese Zeit einfach nicht abhaken wollen. Sie hoffen, die Tage ihres Ruhms noch mal aufleben lassen und strahlen und glänzen zu können. Selbstverständlich umgeben sie sich an einem solchen Tag mit Leuten aus ihrer ehemaligen Clique, und am liebsten wäre es ihnen wohl, wenn die Außenseiter von damals wieder verschüchtert am Rand stehen würden – ausgeschlossen und ignoriert. Das vermute ich zumindest.
Was haben diese Außenseiter überhaupt auf solchen Klassentreffen zu suchen? Was bringt sie dazu, sich noch einmal mit der alten Hierarchie zu konfrontieren? Vielleicht kommen sie, weil sich ihr Leben in den Jahren danach verändert hat. Weil sie sich selbst nicht mehr als Außenseiter wahrnehmen und auch keine mehr sind. Die Demonstration ihres Erfolgs und ihres neuen Selbstvertrauens ist notwendig, damit sie diese Zeit endgültig abschließen können.
Am Samstag, dem 19. Juni, kurz vor dem großen Exodus der Urlauber, fahre ich nach Den Helder. Unterwegs überlege ich, wie Isabel wohl heute wäre. Wie würde sie aussehen, was hätte sie studiert, welchen Beruf hätte sie? Egal – denn sie würde nach wie vor das große Wort führen. Manches ändert sich eben nie. Doch ich habe mich geändert. Wenn Isabel noch leben würde, wäre ich trotzdem zu diesem Treffen gegangen.
Diese plötzliche Erkenntnis überrascht mich. Ich angle ein Lakritz aus der Tüte auf dem Beifahrersitz und stecke es nachdenklich in den Mund. Ob ich Isabel wohl tatsächlich gewachsen wäre? Wahrscheinlich schon.
Ob man der Konfrontation mit jemandem gewachsen ist, hat vor allem damit zu tun, wie weit man denjenigen an sich heranlässt, ob man zulässt, dass er einen seelisch verletzt. Solchen Leuten begegnet man immer wieder, egal, ob sie schon tot sind oder nicht. Man erkennt sie von weitem, nimmt sich in Acht und versucht, nicht wieder dieselben Fehler zu machen.
Es ist schon nach sieben, als ich die Dünen vor mir sehe. Die frühe Abendsonne taucht alles in ein goldenes Licht. Die weiten Felder mit den geköpften Tulpen träumen im Abendlicht. Plötzlich erinnere ich mich an einen Ferienjob auf den Tulpenfeldern, den ich anfangs noch mit Isabel zusammen machte.
Im August war dann Jahrmarkt in der Stadt. Isabel und ich waren dreizehn und fuhren zusammen mit dem Rad hin. Nach einem vergnüglichen Abend war uns leicht schlecht vom Autoscooter und der vielen Zuckerwatte, und wir suchten unsere Fahrräder. Es war zehn Uhr und noch einigermaßen hell, aber die Dunkelheit brach rasch herein.
Isabels Rad war weg. Fast eine
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