Klassentreffen
keine Jacke dabei. Wir gehen genau im richtigen Augenblick, denn als wir den Bürgersteig entlangschlendern und ich noch mal rasch zum Eingang hinüberschaue, sehe ich Olaf, der uns mit einem höchst merkwürdigen Gesichtsausdruck nachschaut.
KAPITEL 35
»Endlich frische Luft!«, sagt Bart zufrieden. Er hat meinen Ellbogen losgelassen, und wir gehen nebeneinander zu unseren Autos. Ich überlege, was er wohl vorhat. Er will doch wohl noch nicht nach Hause?
»Keine Ahnung, warum ich da überhaupt hin bin«, sagt er mit einer Kopfbewegung zur Schule hinüber.
»Fandest du’s denn nicht nett, die ganzen Leute mal wieder zu sehen? Du warst doch beliebt in der Schule und hattest eine Menge Freunde, oder?«, frage ich.
»Ja, aber neun Jahre sind eine lange Zeit. Die meisten hab ich nie mehr gesehen. Mit zweien hab ich Kontakt gehalten, dafür brauch ich so ein Treffen nicht. Ach, man weiß ja, wie das läuft … bla-bla-bla … All die Jahre müssen im Schnelldurchgang nacherzählt werden, und das möglichst allen Leuten. Weil das nicht geht, konzentriert man sich auf ein paar wenige, sonst redet man sich noch um den Verstand. Immer wieder dieselbe Leier: ›… doch, wirklich, ich wohne immer noch in Den Helder. Ich bin Journalist beim Noordhollands Dagblad . Verheiratet, ein Kind, geschieden. Nein, einfach ist das nicht. Wie bitte? Ach so, du hast da jemanden gesehen. Na denn, tschüs. Hi, Peter! Ja, ich wohne immer noch in Den Helder. Wie’s mir geht? Tja, was soll ich sagen. Verheiratet, ein Kind, geschieden …‹«
Bart seufzt und ich lache.
»Da konzentriere ich mich doch lieber auf eine einzige Person, mit der ich wirklich gern reden möchte«, fährt Bart
fort. »Also, was wollen wir machen, Sabine? Wollen wir in die Stadt, was trinken gehen?«
Eine sachte Brise streift meine Wange, warnt mich vor der dicken Kneipenluft, verführt mich, im Freien zu bleiben und den Sommerabend zu genießen. »Ich fänd’s schön, wenn wir zum Strand gehen würden«, sage ich. »Die Lokale dort müssten noch offen sein.«
»Gute Idee«, sagt Bart angetan. »Das machen wir!«
»Nehmen wir dein Auto oder meins?«, frage ich.
»Auto? Ich bin zu Fuß da, ich wohne hier um die Ecke«, sagt Bart.
»Also mein Auto«, sage ich und deute auf meinen silberfarbenen Ford Ka. »Groß ist es nicht, aber du wirst schon noch mit reinpassen.«
»Klar«, sagt Bart.
Ich schließe auf, wir steigen ein und fahren zum Strandaufgang. Zu Fuß wäre es zu weit gewesen, aber mit dem Auto sind wir im Nu dort. Die meisten Badegäste sind schon fort, ein paar wenige, die Ruhe und Einsamkeit suchen, gehen jetzt gerade zum Strand.
»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mein Schwimmzeug mitgenommen«, sage ich. »Es ist noch ganz warm. Das Wasser muss herrlich sein.«
»Das hätten sie nun wirklich auf die Einladung schreiben können: Bitte Schwimmzeug mitbringen!«, sagt Bart.
»Und gute Laune.«
»Abholservice inklusive«, flachst Bart, und wir lachen beide.
Wir gehen den Strandaufgang hoch und genießen die prachtvolle Aussicht auf das sanft rauschende Meer. Die Sonne steht tief am Horizont und färbt das Wasser orangerot.
»Wow«, sage ich.
»War wirklich’ne gute Idee von dir.« Barts Hand sucht meine, hält sie fest und als ich – ob so viel Romantik – nervös kichern will, zieht er mich mit sich die Düne hinab. Ich stoße einen Schrei aus und renne mit großen Schritten hinter ihm her; mir bleibt gar nichts anderes übrig. Bart ist schneller als ich, sodass ich bald falle. Er lässt sich ebenfalls in den Sand fallen, und wir rollen zusammen die Düne hinunter. Außer Atem rappeln wir uns auf und wischen uns den Sand vom Gesicht. Ich fühle mich wieder wie fünfzehn.
»Im Film läuft das aber anders!«, sage ich.
»Kommt drauf an, was für ein Film es ist«, bemerkt Bart. Er rutscht zu mir her, legt den Arm um mich und kommt mit dem Gesicht ganz nah an mich heran. »Eine Komödie oder ein Liebesfilm. Welche Sorte ist dir denn lieber?«
Ich sehe das intensive Blau seiner Augen, das Blau, das ich nie ganz vergessen konnte. »Ein Liebesfilm«, sage ich leise.
»So ein Zufall; den hab ich gerade eingelegt«, sagt Bart. Er beugt sich zu mir und küsst mich. Zarte kleine Küsse, auf die Oberlippe, die Unterlippe, den ganzen Mund. Als ich sie erwidern will, zieht er sich ein Stück zurück, sein Mund wandert zu meinem Hals und von da wieder zu den Lippen. Und dort bleibt er. Ich gebe ihm keine Möglichkeit mehr, weiterzuwandern,
Weitere Kostenlose Bücher