Klassentreffen
schlinge die Arme fest um Bart und küsse ihn mit aller Leidenschaft.
Jetzt weiß ich, was mir bei Olaf gefehlt hat. Jetzt weiß ich, warum Küssen nicht gleich Küssen ist. Mir ist vollkommen egal, dass andere Leute an uns vorbeigehen, dass sie sich wahrscheinlich amüsiert umschauen oder sogar stehen bleiben. Ich habe Bart wieder, und der Rest der Welt kann mir gestohlen bleiben.
Irgendwann lösen sich unsere Lippen voneinander. Wir bleiben eng umschlungen sitzen und können den Blick nicht voneinander wenden.
»Warum hat das so lange dauern müssen?«, fragt Bart leise. »Neun Jahre! Ich kann gar nicht glauben, dass du jetzt hier bist, so nah bei mir.«
Ich zeichne mit dem Finger seine Gesichtszüge nach. »Ich hab so oft an dich gedacht …«
Bart küsst meinen Finger. »Und ich an dich. Das hat mir sehr wehgetan, als es damals aus war.«
»Warum hast du dann Schluss gemacht? Warum bist du weg?« Ich wollte das nicht fragen, die Worte sind mir einfach rausgerutscht.
Bart lässt meinen Finger los und sieht mich total verblüfft an. »Warum ich weg bin? Du hast doch Schluss gemacht! Du wolltest mich nicht mehr sehen.«
Völlig verwirrt starre ich ihn an: »Das ist nicht wahr.«
»Und ob das wahr ist! Ich bin jeden Tag bei dir vorbeigegangen, habe Steinchen an dein Fenster geworfen, geklingelt, aber du hast nicht aufgemacht. Du hast hinterm Fenster gestanden und den Kopf geschüttelt – das war’s. Nicht mal reden wolltest du mit mir, mir keine Erklärung geben. Letztlich hat mir Robin dann gesagt, dass du nichts mehr von mir wissen willst.«
Ich löse mich aus Barts Armen und fasse mir an den schmerzhaft hämmernden Kopf. »Das stimmt nicht, das kann einfach nicht sein!«, sage ich.
Bart sieht mich mit hochgezogenen Brauen an. »Das weißt du doch wohl noch!«, sagt er.
Ich lasse die Hände sinken und schüttle resigniert den Kopf. »Nein, davon weiß ich nichts mehr. Wirklich nicht. Ich soll also Schluss gemacht haben? Bist du ganz sicher? Und warum, warum habe ich das gemacht?«
Bart sieht mich nach wie vor ungläubig an. »Wie kannst du so was nur vergessen?«, sagt er verwundert.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, wische Sand von meinem Bein. »Ich hab so viel vergessen. Zu viel. Ich weiß nicht, warum, aber ich hab große Gedächtnislücken.«
»Wie meinst du das?«
»So, wie ich es sage: Es fehlen Erinnerungen.«
»Welche?«
»Aus der Zeit, als Isabel verschwand. Aber ich dachte, ich könnte mich nur an Dinge nicht mehr erinnern, die sie betreffen, ihr Verschwinden. Ich hatte keine Ahnung, dass ich auch Dinge vergessen hab, die mit uns zu tun haben.« Prüfend sehe ich Bart an. Ob er mir wohl glaubt?
»Das war eine sehr chaotische Zeit damals«, sagt er. »So vieles ist passiert. Isabel war verschwunden, die Polizeiverhöre, die Medien. Die Schule stand regelrecht Kopf. Und dann noch die Abschlussprüfungen. Zu allem Überfluss hast du auch noch mit mir Schluss gemacht. Ich hatte damals das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.«
Ich betrachte das vertraute Gesicht, auf dem sich nach der Leidenschaft von vorhin auf einmal Erinnerungen und Gefühle abzeichnen.
»Wann genau hab ich mit dir Schluss gemacht? Als Isabel schon verschwunden war?«
»Ja, noch in derselben Woche. Von einem Tag auf den anderen wolltest du mich plötzlich nicht mehr sehen. Ich hab nie verstanden, warum, aber ich musste mich wohl oder übel damit abfinden.«
Schuldgefühle überwältigen mich, und verstehen kann ich mein Verhalten absolut nicht. Warum habe ich bloß Schluss gemacht? Mit dem Jungen, in den ich so sehr verliebt war?
»Ich habe ein paar Bücher über die Funktion des Gedächtnisses gelesen«, sage ich zögernd, weil ich befürchte, er könnte mich für verrückt halten. »Man kann offenbar traumatische Erlebnisse verdrängen. Ich weiß nicht, wie das genau geht, aber es ist möglich, sie – sozusagen aus Selbstschutz – aus dem Gedächtnis zu verbannen. Das klingt fast so, als hätte man selbst Einfluss drauf, aber das ist nicht so; es ist ein bestimmter Teil des Bewusstseins, der diese Entscheidung trifft. Ich denke, nein, ich weiß , dass mir genau das passiert ist. Ich muss etwas gesehen oder gehört haben, das ich emotional nicht verkraften konnte, deshalb hat mein Bewusstsein es einfach ausgeblendet. Vorhanden sind die Erinnerungen aber noch, und in letzter Zeit kommt immer mehr davon hoch.«
»Wegen der Schikanen damals«, sagt Bart mitfühlend.
»Nein, das weiß ich
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