Klausen
nicht. Vielleicht habe es jemand anderes gelesen und ihm dann gesagt, keine Ahnung, das sei ja auch nicht so wichtig. Gasser ließ Paolucci daraufhin in der Gasse zurück und ging weiter, aber nicht in den Keller . Seine Gedanken wurden jetzt immer dunkler, er hatte auch plötzlich das dringende Bedürfnis, sehr viel Luft einzuatmen. Josef Gasser war wirklich in einem sehr eigenartigen Zustand. Hätte man ihn gesehen, man hätte ihn vermutlich für krank gehalten, wie im Fieber … Dabei waren diese Zustände bei ihm nicht selten in diesen Tagen, allerdings wußte er nicht mit ihnen umzugehen … diese Anfälle wiederholten sich und schienen doch immer neu und endgültig … Diese Hausmauern, diese ewigen, vollkommen eintönigen Erker, alles das schien über ihm zusammenstürzen zu wollen … Wieso, dachte er jetztfast aggressiv, haben wir Südtiroler eigentlich immer diese Erker an unsere Häuser gebaut? Wo ein Haus ist, kommt ein Erker daran. Und wieso haben wir diese Gassen überhaupt so eng gebaut? Immerfort so eng, als hätten alle Südtiroler von Anfang an nur einen Gedanken gehabt: nämlich die engste aller möglichen Gassen zu bauen. Und alle stehen sie hinter ihren Erkerfenstern und lugen hinaus auf die Gasse, alle auf dieselbe Weise. Genau wie ich vorhin bei meiner Mutter auch aus dem Stubenfenster, also dem Erkerfenster, auf die Gasse geblickt habe. Man steht darin herum wie eine Nippesfigur … Nein, hinaus, ich muß hier dringend hinaus! Gasser lief den Säbener Aufgang hinauf, und je höher er auf der Steintreppe gelangte, desto befreiter fühlte er sich. Er hatte unterdessen die Burg Branzoll erreicht, saß nun auf einer Bank und schaute über das Tal hinweg auf die andere Seite, auf die Bergkette, die Wälder, den Bahnhof, auf die Autobahn und kaute in seinen Mundwinkeln. Er saß dort eine ganze Weile … Übrigens behaupteten später mindestens zwei Personen, ihn dort oben gesehen zu haben: Hanspaul Meraner aus der Färbergasse und Giuseppe Neri, ein italienischer Pensionär aus dem Oberweg. Beide verbreiteten sich später an verschiedenen Orten, vor allem beim Nussbaumer und auf der Bozner Wache, über Gasser und seinen Gang nach Branzoll hinauf … Meraner, Gärtner auf Branzoll, erzählte seinerseits, Gasser sei dort oben die ganze Zeit unruhig hin und her gelaufen, er habe immer wieder einen eigenartig verzerrten Gesichtsausdruckgehabt, dann wieder sei er plötzlich auf eine Erle zugetreten und habe diese Erle so seltsam betrachtet, wie er, Hanspaul Meraner, es in seinem ganzen Leben noch nie gesehen habe. Gasser habe diese Erle mindestens zehn Minuten höchst nachdenklich betrachtet, so, als hinge etwas ganz Entscheidendes von dieser Erle ab, bei anderen Versionen Meraners handelte es sich allerdings plötzlich um eine Buche, später sogar um eine Fichte. Gasser sei vor dem Baum auf und ab gelaufen, dann sei er plötzlich stehengeblieben, habe mehrfach auf den Boden getrampelt und sich auf die Schenkel geschlagen wie ein Rumpelstilzchen (Meraner zufolge war Gasser in einer sehr ungewöhnlichen Stimmung). Später habe er sich wieder auf die Bank gesetzt und plötzlich einige Papiere aus seiner Tasche gezogen, auf denen er irgendwelche Notizen oder Skizzen zu machen begonnen habe, immer mit Blick über das Tal, also nach Osten. (Viele behaupteten damals, Gasser habe an den verschiedensten Orten Notizen oder Skizzen oder dergleichen gemacht.) Überhaupt habe Gasser immer nach Osten geblickt, sehr intensiv, fast zwanghaft, obgleich dort doch überhaupt nichts sei außer dem gegenüberliegenden Berg und dem Autobahnviadukt davor. Später habe Gasser sehr zufrieden ausgeschaut und sei dann wieder verschwunden, Meraner habe das alles genau vom Garten aus sehen können, in dem er gerade Rosen geschnitten habe etcetera . Neri berichtete etwas ganz anderes. Zum einen (das war ihm besonders wichtig) behauptete der Italiener, Meranersei überhaupt nicht im Garten vor Branzoll gewesen, Meraner habe Gasser mit Sicherheit dort oben gar nicht gesehen oder es sich im nachhinein einfach so zurechtgelegt, entweder weil er betrunken gewesen sei oder weil er aus Großtuerei den Zeitungen etwas über Gasser habe berichten wollen, obgleich er gar nichts zu berichten hatte. Möglicherweise auch, so deutete Neri an, habe die Besitzerin von Branzoll, eine Kleinadlige aus dem Piemont, Meraner angewiesen, solche Geschichten über Gasser zu erzählen, um gewisse Verdächtigungen zu zerstreuen, mit denen sie selbst im
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