Kleine Einblicke
musste ihn selbst bei der Post abholen, weil irgendwas mit der Adresse nicht stimmte. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, was da war, aber das ist ja auch egal. Der Brief muss der Grund sein. Wenn Daniel mit mir an Silvester reden wollte, was er nicht getan hat, kommt nichts Anderes in Frage.
„Was stand in dem Brief?“
Daniel zuckt heftig zusammen und bleibt mit dem Rücken zu mir im Zimmer stehen. „Du erinnerst dich an den Brief?“
Deutlicher kann Daniel sich gar nicht verraten. Und ich erinnere mich jetzt wieder, dass er zurückkam, mich anlächelte und meinte, es wäre nichts, da hätte sich irgendjemand mit der Adresse vertan. Das hätte mich eigentlich stutzig machen müssen, aber zu der Zeit war meine Verunsicherung wegen Weihnachten noch viel zu groß, als dass ich nachgehakt hätte. Selbst Schuld. Mal wieder.
„Was war das für ein Brief, Dan?“
„Es war nur ein Versehen“, antwortet er und schlingt die Arme um sich. Seine Angst ist unübersehbar. „Ich hatte es fast vergessen. Als wir ein Paar wurden, habe ich Nick darum gebeten, für mich aufzupassen, wann sie aus dem Gefängnis kommen. Er sagte, er macht es und würde sich melden, wenn er was hört. Der Brief war von ihm. Ein dummer Schreibfehler. Er hat unsere richtige Adresse benutzt, aber meinen alten Namen.“
Oh mein Gott. Jetzt wird mir alles klar. Auf einmal ergibt alles einen Sinn. Auch wenn wir darüber kaum sprechen, war mir natürlich klar, dass man Daniels Peiniger eines Tages wieder auf freien Fuß setzen würde. Aber so schnell habe ich nicht damit gerechnet. Das deutsche Rechtssystem ist wirklich ein Witz. Ich kann mir ein wütendes Schnauben nicht verkneifen.
Daniel nickt. Er versteht genau, was in mir vorgeht. „Sie wurden wegen guter Führung vorzeitig entlassen.“
Seine Stimme klingt erstickt, er weint. „Dan...“
„Wegen guter Führung, das muss man sich mal vorstellen.“ Daniel dreht sich zu mir und lacht und weint zugleich. „Die bringen mich fast um und was ist jetzt...? Die sind draußen. In Freiheit. Und ich habe Panik bei der Vorstellung mit dir wegzufahren, wo fremde Menschen mich sehen könnten. Vielleicht sogar einen Blick auf eine Narbe erhaschen. Was, wenn sie mich finden, Connor?“
Daniel wendet sich wieder ab, aber da bin ich längst bei ihm, umarme ihn und halte ihn fest. „Sie werden dich nicht finden, Dan. Niemals.“
„Das weißt du nicht. Niemand weiß das.“
„Du lebst jetzt in den USA. Du hast einen neuen Namen, ein neues Leben. Du bist sicher hier.“
„Ich bin vorbestraft, hast du das vergessen? Vielleicht finden sie mich so. Über meine Akten.“
Gegen die Angst kann ich nicht ankommen, wird mir klar. Aber ich weiß, wer es kann. Und ich weiß ebenfalls, dass Daniel bisher kein Wort darüber mit ihm gewechselt hat. Deswegen ziehe ich Daniel mit mir zum Telefon in die Küche, um Nick anzurufen. Er ist Anwalt, kennt sämtliche Gesetze. Er wird es ihm erklären können. Hätte es vermutlich längst getan, wenn Daniel ihn angerufen hätte. Wenn jemand meinem Freund begreiflich machen kann, dass er bei mir, bei unserer Familie, in Sicherheit ist, dann ist es Nick.
„Kendall?“
„Ich brauche deine Hilfe“, bitte ich und Nick erkennt den Ernst der Lage sofort.
„Der Brief?“
„Ja.“
„Schieß los.“
Ich erzähle ihm, was los ist. Nick hört zu und verlangt dann mit Daniel zu reden. Ich überlasse Daniel das Telefon, sehe zu, wie er anfangs weiter nervös auf und abläuft, aber nach ein paar Minuten wird er ruhiger. Daniel sagt nicht viel, hört nur zu, nickt ab und an, sieht zu mir, lächelt kurz und hört weiter zu. Ich kann nicht verstehen, was Nick ihm sagt, aber einzelne Wortfetzen bekomme ich mit, die mir seinen Tonfall verraten. Er schafft, was ich nicht so könnte, denn sobald Nick etwas wirklich Wichtiges erklärt, tut er das mit einer Engelsgeduld, um die ich ihn schon immer beneide. Er hat mit seiner Stimme die gleiche Wirkung, wie ich mit meiner Ruhe und Geduld, hat Tristan mal gesagt und ich gebe ihm Recht.
Irgendwann legt Daniel auf und kommt zu mir, um sich umarmen zu lassen, was ich zu gerne tue. Er zittert etwas, aber die vorherige Panik ist aus seinen Augen verschwunden. Sehr gut, Nick, denke ich im Stillen und küsse Daniel sanft auf die linke Ohrspitze, was ihn genießerisch aufseufzen lässt und ihm gleichzeitig eine Gänsehaut beschert. Er mag das nämlich sehr.
„Danke“, flüstert Daniel schließlich.
„Besser?“, frage ich leise und er
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