Kleine Luegen erhalten die Liebe
buchstäblich eine Nanosekunde, nachdem er den Karton geöffnet hatte, anrief und Karen dabeistand und einen Schuh in ihrer Hand drehte wie eine Waffe. Fraser erwähnte die Dinger nicht einmal, als er mit Mia sprach.
Es war ihm alles zu viel, und so schlich er unter dem Vorwand, ein »besonderes« Frühstück besorgen zu wollen, hinaus, um eine Weile allein zu sein. Aber er will nicht, dass an diesem Tag etwas besonders ist, und wünscht jetzt doch, er wäre arbeiten gegangen. Im Moment hat er einen dreitägigen Job bei Dreharbeiten für die »Tena Lady«-Website (Englands Experte Nummer eins für Blasenschwäche und Inkontinenz), bei dem es seine Aufgabe ist, ein Mikrofon über eine Frau in einem Trikot zu halten, die Übungen vorführt, die verhindern sollen, dass man sich einnässt, wenn man niest. Gestern hat er Brett, den Regisseur, »aus dringenden familiären Gründen« gebeten, ihm den Vormittag freizugeben. Aber jetzt wünscht er, er hätte es nicht getan; jetzt würde er lieber ein Mikro unter jemandes Lycra-Trikot befestigen. Zumindest würde es ihn ablenken.
Er atmet tief durch und macht sich auf den kurzen Heimweg. Die Plastiktüte mit dem Frühstück, die er schon vergessen hatte, schlägt ihm beim Gehen gegen das Schienbein. Als er heimkommt, sitzt Karen, das Telefon vor sich und an ihrerUnterlippe knabbernd, am Küchentisch wie das Klischee der braven Ehefrau, die gerade entdeckt hat, dass ihr Mann eine Geliebte hat. Für eine Sekunde fragt sich Fraser, ob das nicht vielleicht sogar der Fall sein könnte. Immerhin scheinen sich ganze Ereignisse oder Beziehungen in seinem Leben abzuspielen, an deren Beginn er sich nicht einmal erinnern kann.
»Was ist das für eine Geschichte mit der Liste?«, fragt Karen, doch ihr Ton ist mehr besorgt als anklagend.
Fraser erstarrt. »Mit was für einer Liste?«, entgegnet er idiotischerweise.
»Was weiß ich? Anna hat gerade angerufen. Sie sagte: ›Kannst du Fraser bitten, mich wegen Wordsworth und der Liste anzurufen? Er wird wissen, was ich meine.‹ Und da fiel mir ein, dass Norm an Billys Geburtstag auch eine Liste erwähnte, und ich fragte mich, was das für eine Liste ist.«
Sein Instinkt rät ihm zu lügen. Lügen, lügen, lügen. Aber dann kommt ihm der Gedanke: Warum sollte ich? Wenn er cool blieb, bestand kein Grund dazu, und deshalb sagt er: »Okay.« Um noch »unbefangener« zu wirken, stellt er die Tüte ab, bevor er sich Karen gegenübersetzt.
»Es ist eine Liste für Liv«, beginnt er, »oder, besser gesagt, eine Liste, die Liv verfasste – mit Dingen, die sie tun wollte, bevor sie dreißig wurde. Norm fand sie in einem alten Parka. Sie muss sie dort irgendwann vergessen haben …«
Karens Blick schweift unruhig hin und her, als sie das zu verarbeiten versucht. »Aha. Und?«
»Und so beschlossen wir, die Dinge auf der Liste für sie zu tun – wir alle, meine ich: Anna, Mia, Norm und Melody und ich. Wir fanden, es wäre ein schöner Tribut an Liv, wenn wir die Aufgaben unter uns aufteilten und versuchten, sie zu tun, bevor sie dreißig geworden wäre. Vor dem kommenden März also.«
»Okaaay … Und gibt es irgendeinen bestimmten Grund dafür, dass du mir von der Liste nichts erzählt hast? Denn ganz ehrlich, Schatz, ich finde es großartig, was ihr da macht …« Sie greift über die Tischplatte, um Frasers Hand zu nehmen, und wieder einmal fragt er sich, wie jemand so liebenswert, so warmherzig sein kann und es dennoch nicht die richtige Art von Warmherzigkeit für ihn ist.
Sie wartet.
»Was? Nein! Natürlich nicht. Es gibt keinen bestimmten Grund«, sagt er ein wenig übereifrig. »Ich dachte bloß, es ist keine große Sache, nur etwas unter uns, und dass es dich wahrscheinlich gar nicht wirklich interessieren würde, weißt du?«
»Natürlich interessiert es mich, Schatz. Aber du hast schon recht.« Fraser kann förmlich die Zahnräder in Karens Kopf arbeiten sehen. Sie braucht oft Zeit, um Ideen wie diese nachvollziehen zu können: Das ist es, was ihm Angst macht, weil man nie wissen kann, was dabei herauskommt. »Ich verstehe schon, dass es etwas Persönliches, Privates zwischen dir und deinen Freunden ist.«
»Genau.« Fraser nickt. »Ganz genau …«
Sie sieht ihn an, und er glaubt, so etwas wie einen Anflug von Furcht in ihrem Blick zu sehen.
»Na schön. Was steht denn nun auf der Liste?«
Damit hatte Fraser nicht gerechnet, und nun muss er sich vorsehen und seine Story auf die Reihe kriegen.
»Na ja, Las Vegas
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