Kleine Luegen erhalten die Liebe
nennen) zu einem Schweige-Wochenende in ein Kloster zurückgezogen, wo man achtundvierzig Stunden lang nicht reden darf! Kannst du dir das vorstellen? Spanner achtundvierzig Stunden, ohne einen Ton von sich zu geben? Ich wäre weniger besorgt, wenn sie beschlossen hätte, sich nackt vom Gherkin abzuseilen.« Mia lacht ein bisschen sinnlos vor sich hin, bevor sie den Kopf zurücklegt und zu den am Himmel dahinziehenden Wolken aufschaut. Ein tiefer Seufzer entringt sich ihr, denn jetzt kommt, was sie Liv eigentlich erzählen will:
»Deshalb stehen Anna und ich uns nicht mehr so nahe, und das macht mich traurig, weil ich weiß, dass ihr beide euch wirklich sehr verbunden gefühlt habt. Und irgendwie dachte ich immer, wir stünden uns alle sehr nahe. Aber ich bin nicht sicher, ob das ohne dich so bleiben wird, Liv. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob es ohne dich überhaupt noch ein ›uns‹ gibt. Ich habe versucht, Anna ›zu gewinnen‹, doch ich kann es nicht … nicht so wie du. Und ich habe ein schlechtes Gewissen deswegen.
Sie vermisst dich ganz schrecklich, glaube ich. Mehr, als sie sich anmerken lässt. Falls du also irgendwelche Tipps hast, um Spanner zu verstehen – und dein gutes Werk fortsetzen möchtest, du HEILIGE! –, dann lass sie mir doch bitte zukommen, ja? Schick mir eine Erleuchtung, Liv!«
Mia beugt sich vor, um einen Energy-Drink aus der Tasche zu nehmen, schraubt die Flasche auf und nimmt einen großen Schluck daraus.
»So, und jetzt zu Melody«, sagt sie, während sie die Flasche wieder zuschraubt. »Es ist eine lange Geschichte, und ich hoffe, du hast Zeit genug?«
Dann erzählt sie Liv ausführlich von der Party, die Melody nicht einfach so , sondern gleich aus mehreren Gründen veranstaltete, und Mia beschreibt, wie ihre frühere Freundin – damals Indie-Kid und militante Linke – jetzt vor ihren Augen zu einer Hyacinth Bucket wie aus der Sitcom Mehr Schein als Sein wurde. Sie schweift vom Thema ab mit der Geschichte von dem Häufchen im Planschbecken, dem Portugiesisch-Unterricht bei einer Giselle-Doppelgängerin und Mrs. Durham, die sich letzte Woche einen unverschämt lauten Rülpser in der Staatsbibliothek von Lancaster erlaubte, der Mia derart in Verlegenheit brachte, dass sie sich von Mrs. Durhams Rollstuhl entfernen musste, während diese munter weiterplapperte und es nicht einmal bemerkte.
Und Norm?
»Nun, ich sage es nicht gern. Im Moment herrscht nicht nur eitel Freude und Sonnenschein bei Norm und Melody, aber wir hoffen, dass sich das ändern wird, weil sie demnächst – Ta-da! – einen Amateurporno drehen werden. Oh ja! Das war deine Idee, Olivia, falls du das bereits vergessen hast. Zwei Nächte in einem romantischen Hotel am See mit ›Requisiten‹. Also jede Menge Möglichkeiten für Konflikte, wie du siehst.Tatsächlich«, wieder lacht sie leise vor sich hin, »haben Frase und ich …«
Mia würde Liv gern all die Titel nennen, die sie und Fraser sich für Norms und Melodys Filmchen ausgedacht haben, wie viel Zeit sie damit verbracht haben, ganze Abende am Telefon herumzualbern, um sich die dümmsten Namen einfallen zu lassen … doch sie tut es nicht, weil ihr nicht wohl dabei ist, über Fraser zu reden.
Und so schlägt sie die Beine übereinander und lehnt sich auf der Bank zurück. »So, und nun zu mir. Mir geht es gut. Billy läuft inzwischen, und er ist einfach süß, mein kleiner Freund. Früher ärgerte es mich, wenn Leute ihr Kind so nannten, weil ich immer dachte: Wenn du einen Winzling, der nicht mal mit dir in den Pub gehen kann, deinen ›Freund‹ nennst, musst du dir dringend einen beschaffen. Aber zumindest ist er neuerdings mein Verbündeter, statt ein Tyrann.
Ich habe auch noch andere Neuigkeiten«, bemerkt sie und verzieht das Gesicht, obwohl sie ganz allein ist. »Eduardo und ich sind wieder zusammen. Aber bevor du etwas sagst, Liv – es gibt Regeln! Jede Menge Regeln. Und ich mache die Vorschriften. Es gibt keine Mia mehr, auf der man herumtrampeln kann und die stets den Weg des geringsten Widerstandes geht. Heute ist alles R.E.S.P.E.K.T. in meinem Haus. Ich weiß, dass du zufrieden mit mir wärst. Das Komische ist, dass es zu funktionieren scheint, was fast schon wieder alles zunichtemacht. Ich bin wirklich nicht daran gewöhnt.«
Sie macht eine Pause, eine lange Pause; sie weiß, dass da noch eine Person ist, von der zu sprechen sie vermeidet, und je mehr sie darüber nachdenkt, desto unwohler fühlt sie sich, bis sie
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