Kleine Luegen erhalten die Liebe
überschritten, so ist es doch.«
Mia versuchte, nicht die Augen zu verdrehen, als sie Mrs. Durham ein Glas Wasser und zwei Paracetamol reichte. »Man hätte mir schon vor Jahren den Garaus machen müssen.«
Die Hände in den Hüften, stand Mia da und zog die Wangen ein, weil sie nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. »Also Mrs. D. …«
»Ich bin nur ehrlich«, erwiderte diese grantig und schluckte ihre Pillen. »Ich spreche nur aus, was wir alle denken, wenn wir den ganzen Tag in unseren Lehnstühlen sitzen, uns zu Tode langweilen und fragen, wie lange wir diese Scharade noch fortführen müssen …« Morecambe, die humorloseste von Mrs. Durhams beiden humorlosen Katzen, sprang von ihrem Schoß, als wollte sie sagen: Gib mir Kraft, Herr!, und spazierte aus dem Raum.
»Ich bin halb blind, halb taub, und diese Schulter macht mir nichts als Ärger.« Mrs. Durham schwenkte ihr Glas Wasser vor Mias Gesicht, was nicht gerade ein Anzeichen für eine von Arthritis geplagte Schulter war. »Ich sag Ihnen eins, meine Liebe: Machen Sie jetzt das Beste aus Ihrer Zeit, denn wenn Sie erst mal über fünfzig sind, haben Sie nichts anderes mehr zu erwarten als Schmerz und Tod.«
Mia rieb sich die Stirn. »Und das auch nur, wenn man Glück hat, schätze ich, Mrs. D.« Außerstande, es noch länger zu ertragen, erhob sie sich und verließ das Zimmer.
Mit dem Rücken an die Küchenwand gelehnt, atmete sie tief durch. »Ich glaube nicht, dass ich mir diese Woche die Mühe machen werde, den Kühlschrank auszuwaschen. Ich habe nachgesehen, und er scheint es nicht nötig zu haben«, rief sie ins Nebenzimmer und wartete.
»Nein, machen Sie ihn bitte sauber, ja!« Wie sie schon immer vermutet hatte, waren die Hörprobleme, die Mrs. Durham hatte, rein selektiver Natur. »Und eine Tasse Tee wäre schön. Man könnte ja verdursten in diesem Haus!«
Mia ging zu Mrs. Durhams altmodischer Spüle, die so antiquiert war mit ihrem Stoffvorhang darunter, dass sie heute schon wieder in Mode war, zumindest wenn man bestimmten Inneneinrichtungs-Magazinen glauben durfte. Mia füllte den Wasserkessel und warf einen Blick auf die Reihe gigantischer Schlüpfer, die draußen auf der Wäscheleine hingen.
Gott, sie kam sich vor wie Aschenputtel!
»Was ist an dem Wasserkocher bei mir hier drinnen auszusetzen? Sie brauchen sich nicht in der Küche zu verstecken«, schrie Mrs. Durham.
»Vielleicht will ich mich aber hier verstecken«, murmelte Mia, während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, und in Mrs. Durhams Schränken nach Keksen suchte.
Sie ging jetzt schon seit zehn Monaten zu Mrs. Durham und war mittlerweile mehr oder weniger an ihre Ticks gewöhnt. Tatsächlich war es für Mia schon beunruhigend normal, Dinge wie Doppelkekse mit Vanillecremefüllung und andere Nahrungsmittel zwischen alten Steckdosen, Strümpfen und Behältern mit Brühwürfeln zu finden, deren Verfallsdatum seit 1987 abgelaufen war. Unzählige Male hatte sie versucht, Ordnung in Mrs. Durhams Schränke zu bringen oder deren Inhalt zumindest in Verderbliches und Unverderbliches aufzuteilen, doch jedes Mal war sie auf frischer Tat ertappt worden:
»Hantieren Sie schon wieder an meinen Sachen herum?«, rief die alte Dame dann aus ihrem Lehnstuhl. »Lassen Sie das bitte, sonst finde ich nichts mehr wieder!«
Und so blieb Mia nichts anderes übrig, als Kekspäckchen unter Elektrozubehör und Katzenfutterdosen aus Unterwäscheschubladen herauszufischen. Und trotz ihrer Bemühungen lag noch immer eine unerklärliche Anzahl in Alufolie verpackter, verdorbener Kuchenportionen überall im Haus herum.
Mia hätte noch verstehen können, dass es keine bestimmten Schränke für bestimmte Dinge gab, wenn es noch bestimmte Zimmer gegeben hätte, die bestimmten Zwecken dienten. Aber Mrs. Durham hatte nach und nach verschiedene Möbelstücke und Geräte aus anderen Räumen in das vordere Wohnzimmer verlegt, in dem sie die meiste Zeit verbrachte, sodass sie auch ebenso gut in einem möblierten Zimmer hätte leben können.
Wie der Sessel – eine Art Fellbündel in Möbelform –, in dem sie den ganzen Tag saß und Morecambe und Wise, ihre Katzen, an die Brust drückte, als kreiste der Tierschutzverein in einem Helikopter über ihr und könnte sie ihr jederzeit entreißen, stand dort auch ihr Bett, dazu ein elektrischer Zwei-Platten-Herd, auf dem sie Suppe erhitzte, ein Wasserkessel, eine Schubladenkommode, in der sie ihre Kleider aufbewahrte und die von Morecambe und
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