Kleine Luegen erhalten die Liebe
die Straße hinuntergehen kann? Seien Sie vernünftig, meine Liebe!«
Im Fernseher lief eine Folge von Das Geld liegt auf dem Dachboden , Mrs. Durhams Lieblingssendung, und sie stellte das Gerät lauter, als wäre das Thema damit für sie erledigt, und schlürfte ihren Tee.
Mia seufzte. »Wie wär’s denn mit einem kleinen Spaziergang? Um ein bisschen frische Luft zu schnappen? Es ist ein schöner Tag.«
»Danke, aber ich denke, ich bleibe lieber hier sitzen und sehe mir die Sendung an. Sie wissen doch, wie gern ich sie sehe.«
Das Telefon in der Hand, stand Mia in einem Sonnenstrahl am Fenster, blickte in den herbstlich wolkenlosen Tag hinaus und wurde urplötzlich von einer Welle der Niedergeschlagenheit erfasst. Was machten sie hier in diesem völlig überheizten Zimmer, das nach gefüllten Keksen und Katzenurin roch, während draußen ein wunderschöner Oktobertag vorüberging? Nein, das würde sie nicht länger hinnehmen! Was hätte Liv für ein weiteres Lebensjahr gegeben, ganz zu schweigen von den achtundsiebzig, die Mrs. Durham schon hinter sich hatte!Und sie konnte noch zehn, vielleicht sogar zwanzig Jahre länger leben, falls Gott so unerbittlich sein sollte, und trotzdem schien sie sich darauf zu kaprizieren, in ihrem übel riechenden kleinen Wohnzimmer zu sitzen und langsam zu vergammeln. Nein, das ließ Mia nicht länger zu!
Entschlossen ging sie zum Fernseher und schaltete ihn ab.
»Stellen Sie ihn sofort wieder an! Ich will meine Sendung sehen!«
»Ja, aber ich möchte mit Ihnen reden«, sagte Mia.
Mrs. Durham schaltete das Gerät wieder ein. Gott, das war, als kümmerte man sich um ein kleines Kind! Mia ging zu der alten Dame, schnappte sich die Fernbedienung und schaltete den Fernseher wieder aus.
»Mrs. Durham«, begann sie, und nun, da sie sich dazu entschlossen hatte, begann ihr Herz zu rasen. »Was ich jetzt sagen werde, sage ich nur zu Ihrem Besten. Denn bei allem Respekt, Mrs. Durham – ich bin Ihre Haltung langsam leid. Ich möchte Ihnen helfen, doch Sie sträuben sich gegen all meine Bemühungen und Angebote. Sie wollen keinen Arzt wegen der Schmerzen sehen, Sie wollen nicht einmal das Haus verlassen, und doch sind Sie vor acht Tagen erst zu einer Beerdigung gegangen und schienen gesund und munter zu sein.« Und genauso war es gewesen. Mrs. D. hatte den Anruf wegen der Beerdigung einer früheren Arbeitskollegin am Montagabend erhalten und war dann, wundersamerweise wie ein in Lourdes geheilter Leprakranker, am nächsten Morgen aufgestanden, hatte sich angezogen, den Bus nach Heysham genommen und war, ganz allein und nur mithilfe ihres Gehstocks, zu der Beerdigung marschiert.
Als Mia sie dort abgeholt hatte, war sie beschwipst gewesen – oder vielleicht sogar noch mehr als das – und hatte mit großem Appetit ein mächtiges Stück Schwarzwälder Kirschtorte verputzt. Und heute, eine Woche später, konnte sie sich nicht bewegen und nichts essen – alles Blödsinn, dachte Mia. Absoluter Quatsch.
Sie holte tief Luft, weil Strafpredigten zu halten ihr nicht leichtfiel, aber jetzt hatte sie einmal damit angefangen und brannte darauf fortzufahren. Mrs. Durham musterte sie verdrossen und schlürfte ihren Tee. »Ich weiß, dass Sie Schmerzen haben«, fuhr Mia fort, »dass Ihre Augen nicht mehr so gut wie früher sind und dass viele Dinge Ihnen manchmal schwerfallen, doch Sie sind erst achtundsiebzig. Das bedeutet, dass Sie mindestens noch zehn Jahre oder vielleicht sogar noch zwanzig vor sich haben …«
Mrs. Durham schloss die Augen und legte wie im Gebet die Hände aneinander. »Lieber Gott im Himmel, bitte lass mich vorher von irgendwem erschießen!«
»Nein, genau das ist der Punkt, verflixt noch mal!«, schimpfte Mia, die immer erboster wurde. »Niemand wird Sie vorher erschießen« (obwohl der Gedanke ihr heute immer verlockender erschien), »und deshalb können Sie nur das Beste aus Ihrem Leben machen. Ich komme jede Woche her, und manchmal macht es Spaß, aber in letzter Zeit waren Sie eine echte Nervensäge, Mrs. Durham, und schrecklich miesepetrig. Sie sind …« Mia zögerte. »Sie benehmen sich wie ein kleines Kind und vergeuden Ihr Leben, was Ihnen gar nicht guttut. Also kommen Sie und lassen Sie uns bei diesem schönen Wetter einen Spaziergang unternehmen! Ich kann Sie auch im Rollstuhl fahren, wenn es Ihnen lieber ist«, schlug Mia vor und machte drei große Schritte auf die alte Dame zu. »Es ist erst Viertel nach zwei, wir könnten also auch zum Midland gehen,
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