Kleine Luegen erhalten die Liebe
bringen. Ich weiß, das klingt verrückt, doch …«
»Es ist verrückt«, warf Norm ein.
»Ich dachte eben …« Anna blickte zu ihnen auf. Ihr Gesicht war schmutzig vom Rauch, ihre Wimperntusche verlaufen, und Fraser bezweifelte, dass er sie je zuvor so kleinlaut erlebt hatte. »Ich dachte, dass ich Liv verloren hatte und jetzt auch noch euch alle verlieren würde, und das konnte ich nicht ertragen, weil ihr alles seid, was ich habe.
Melody, du hast immer Norm gehabt, und jetzt, da ihr euch getrennt habt, seid ihr nicht mehr ihr . Und du, Mia – wir beide standen uns einmal nahe, doch nun hast du Billy und scheinst auch Fraser zu haben, und du fehlst mir, Mia. Sehr sogar.«
»Oh, Anna«, sagte Mia schnell. »Du fehlst mir auch. Es tut mir so leid, Liebes, ich hatte keine Ahnung, dass du dich so fühltest.«
»Und ich, wen hatte ich?« Tränen liefen jetzt über ihre Wangen und tropften von ihrem Kinn. »Früher hatte ich Liv, aber jetzt ist sie tot, und ich habe sie so vermisst und vermisse sie immer noch so sehr! Ich habe keinen richtigen Job, ich habe kein Baby, meine Freunde waren mein Leben und meine Familie, und ich will nicht, dass das alles aufhört. Ich habe wahnsinnige Angst davor, dass plötzlich alles einfach aufhört.«
Gerade die Person von uns, die sich so verhielt, als brauchte sie uns andere am wenigsten, war vielleicht gerade die, die uns am meisten brauchte, erkannte Fraser jetzt.
Mia streichelte Annas Rücken und versuchte, sie zu beruhigen. Norm stellte einen Fuß in die Tür; er musste sich Klarheit verschaffen.
»Dann habt ihr zwei also herumgeknutscht in der Nacht, in der Liv starb?«
Mia legte den Kopf auf Annas Knie und sah Fraser mit einem etwas resignierten Lächeln an.
Fraser dagegen fühlte sich augenblicklich besser. Aus irgendeinem verrückten Grund empfand er Erleichterung darüber, dass es endlich einmal ausgesprochen worden war. »Ja«, sagte er, »und es hat mich seitdem fast wahnsinnig gemacht. Wir hatten so ein schlechtes Gewissen deswegen, ich vielleicht noch mehr als Mia …«
»Na klar, weil’s mir ja auch egal ist. Ich hab ja kein Gewissen«, warf Mia spöttisch ein.
Fraser legte eine Hand auf ihre Schulter. »Unsinn, du bist nur viel vernünftiger als ich.«
»Ich wusste einfach, was geschehen war, war geschehen«, sagte Mia leise. Inzwischen lehnten sowohl Melody als auchNorm mit bestürzten Gesichtern an der Tür des Krankenwagens. »Und dass nichts Liv zurückbringen würde. Ich wusste, dass wir nie erfahren würden, ob sie uns gesehen hatte oder was sie dabei empfunden hatte. Es hat mich auch verrückt gemacht – Gott, ich war monatelang in psychologischer Behandlung! Aber ich konnte mich nicht weiter deswegen geißeln. Wir können uns nicht ewig weiterquälen. Liv würde das nicht wollen, das weiß ich. Sie war meine beste Freundin.«
Melody nickte. »Hey, wir alle wissen das. Und außerdem spielt es heute keine Rolle mehr.«
Es war ihr erster Beitrag zu der Unterhaltung, und alle wandten sich ihr zu.
»Es ist unwichtig, wer wen geküsst hat«, sagte sie. »Weil Liv nämlich Norm liebte.«
Die anderen brauchten eine Minute, um das zu verdauen. »Was?« , murmelte Fraser dann.
»Oh ja, und zwar seit Jahren schon, wie sich herausstellte.« Sie sah Norm an und lächelte, doch ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich weiß, dass das ziemlich schwer zu glauben ist.«
Fraser sah Norm an, der aussah, als würde ihm übel, so schockiert war er. Aber ein leichtes Zucken seiner Augenbrauen verriet Fraser, dass Melody die Wahrheit sagte.
»Ich habe das hier gefunden, als ich unser Haus ausräumte.« Sie zog ein Blatt Papier aus ihrer Tasche.
»Verdammt«, murmelte Norm. »Wie hast du das geschafft?«
»Oh, das war nicht schwer, du hattest es ja nicht sehr gut versteckt. Es steckte in der Hülle einer Green-Day-CD.«
Sie entfaltete es. Nur wenige Zeilen standen auf dem Blatt, und Fraser erkannte sofort die elegante, ein wenig schräge Linkshänder-Handschrift.
»Wie sich herausstellte, gab es noch einen weiteren, einenletzten Punkt auf Livs Liste, auf einem zweiten Blatt Papier«, sagte Melody. »Nummer einundzwanzig.«
Norm, der mit offenem Mund dastand, blickte Fraser an und biss sich auf die Unterlippe.
»Der Zettel trägt das Datum vom fünfzehnten Juli.«
»Das ist Billys Geburtstag«, bemerkte Mia.
»Und unser Hochzeitstag«, setzte Melody hinzu. »Sie schrieb diese Zeilen am Tag unserer Hochzeit. Am fünfzehnten Juli
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