Kleine Luegen erhalten die Liebe
Sekunde sah er wieder den schüchternen, pummeligen Achtjährigen, der sich vor zwanzig Jahren im Fußballclub Bury mit ihm angefreundet hatte und ihm seitdem nicht mehr von der Seite gewichen war.
Fraser trat einen Schritt vor und umarmte ihn. »Und auch du bist mein Freund«, sagte er. »Mein einzig wahrer Freund.«
♥
Gegen ein Uhr nachts saßen Mia, Melody und Fraser in der Bar. Norm und Anna waren schon zu Bett gegangen.
Das Drama und Trauma des Abends war Fraser nahegegangen, und er war erschöpft und den Tränen nah wie immer, wenn die alten Dämonen wieder ihre Fratzen zeigten. Anna schwor, dass Liv nicht gesehen hatte, wie er und Mia sich küssten, dass sie nicht auf dem Balkon gewesen war, als es passierte, aber niemand konnte sich dessen hundertprozentig sicher sein. Vielleicht hatte Anna sie ja nur nicht bemerkt. Nicht, dass das noch von Bedeutung wäre …
»Ich hätte da sein müssen für Liv«, sagte er und biss sich in den Daumennagel. »Ich hätte für sie da sein müssen, doch ich war es nicht.«
»Aber nun begreif doch endlich, Fraser!«, erwiderte Mia. »Wir waren alle betrunken. Keiner von uns war für sie da.«
Fraser starrte seine Hände an. »Doch ich habe Anna gerettet, nicht? Warum konnte ich Liv nicht retten? Und ich weiß immer noch nicht, ob sie glücklich war in ihren letzten Momenten. Das bringt mich um, verdammt noch mal! Es bringt mich um!«
Eine Weile saßen sie schweigend da. Dann konnte Fraser Mias Blick auf sich spüren, und er hob den Kopf und sah, wie sie für einen Moment die Augen schloss, nur eine Sekunde,und dann ein wenig den Kopf wiegte, als hätte sie etwas gedacht und es wieder verworfen.
Während er sie noch beobachtete, stand sie plötzlich auf. »Ich muss ins Bett«, erklärte sie leise. »Melody, du kümmerst dich um ihn, ja?« Dann ging sie zu Fraser und küsste ihn auf die Wange, gerade lange genug, dass er ihren warmen Atem auf der Haut spüren konnte. »Du warst heute Abend großartig. Ich bin sehr stolz auf dich.« Dann gab sie auch Melody einen Kuss und ging.
Jetzt blieben nur noch Fraser und Melody, und das einzige Geräusch war das Summen des verglasten Kühlschranks.
»Ein Bier?«, fragte sie. »Ich habe einen Fünfer, den kann ich ihnen hierlassen.«
Sie ging zu dem Kühlschrank, kam mit zwei Flaschen Budweiser zurück und reichte Fraser den Flaschenöffner.
Fraser öffnete sein Bier und stieß einen tiefen, müden Seufzer aus. »Und wie geht es dir, Mel?«, meinte er, als er sich wieder hinsetzte und sie ansah. »Denn seien wir doch ehrlich – niemand hat dich danach gefragt, oder?«
Melody streifte ihre Schuhe ab und zog die Füße unter sich. »Mir geht’s gut. Tatsächlich sogar mehr als gut, es geht mir blendend.«
»Und was sagst du zu den neuesten Erkenntnissen dieses Abends? Ich meine, ich weiß, dass du und Norm nicht mehr zusammen seid, aber es muss doch trotzdem sehr, sehr wehgetan haben?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nicht wirklich. Und außerdem ist das sowieso alles Geschichte, nicht? Selbst wenn Liv überlebt hätte, hätte sich irgendwann herausgestellt, dass Norm und ich nicht zueinanderpassen. Und vielleicht wäre ja aus dir und Mia noch ein Paar geworden? Am Ende kommt ja doch immer alles heraus.«
Fraser lächelte schwach. Daran hatte er gar nicht gedacht. Wie lebensklug seine alte Freundin wurde! Wie stark sie sich in allem erwiesen hatte! Er war wirklich stolz auf sie.
Schweigend tranken sie ihr Bier. »Darf ich etwas sagen?«, fragte Melody nach einer Weile. »Darf ich ganz offen zu meinem Freund sein?«
»Ja, aber wenn ich noch mehr Offenbarungen heute Abend höre … noch mehr Enthüllungen, dann kippe ich vielleicht noch aus den Latschen!«
Melody lachte geheimnisvoll. »Nein, es ist keine Enthüllung. Mehr ein guter Rat: Du musst aufhören zu denken, du hättest irgendwas mit Livs Tod zu tun gehabt.«
Fraser biss sich ins Handgelenk und sah sie von der Seite an, als wäre das, was sie ihm riet, zu viel von ihm verlangt.
»Es war ihr Tod und ihr Leben, Fraser. Sie ist es, die ihr Leben verlor, nicht du. Sei mir nicht böse, aber zu glauben, dass irgendein Kuss oder du und Mia etwas damit zu tun hattet, ist nichts weiter als arrogant und egoistisch.«
Schuld ist ein egoistisches und nutzloses Gefühl. Das hatte Melody schon einmal zu ihm gesagt, und jetzt erinnerte er sich wieder daran.
Er ließ ein kurzes, beschämtes Lachen hören.
»Wir müssen sie gehen lassen«, meinte Melody. »Wir müssen
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